Die Zahl der Gymnasiasten, die aus Leistungsgründen auf die Realschule wechseln müssen, ist in Stuttgart wieder gestiegen. Für die Pädagogen liegen die Gründe auf der Hand. Doch was sagen die Eltern dazu?

Stuttgart - In diesem Schuljahr sind in Stuttgart 309 Gymnasiasten auf die Realschule und 19 auf die Gemeinschaftsschule gewechselt. Die meisten von ihnen unfreiwillig, weil sie den Anforderungen im Gymnasium nicht genügen. Manche wollten einem absehbaren Scheitern auch nur zuvorkommen. Damit ist die Zahl der leistungsbedingten Schulwechsler vom Gymnasium auf die Realschule wieder gestiegen – und bringt diese Schulart logistisch in die Bredouille. Auch pädagogisch sei es eine Herausforderung, sagt Barbara Koterbicki, die geschäftsführende Schulleiterin der Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschulen – „ich versuche immer, die Kinder sofort aufzufangen.“ Schlechte Schulleistungen belasteten ja auch das Familienleben. Als Hauptgrund für das Scheitern der Kinder sieht sie eine Fehleinschätzung der Eltern. „Die meisten Wechsler haben keine Gymnasialempfehlung gehabt.“ Das weiß sie, weil sie sich die Grundschulempfehlung bei späten Wechslern grundsätzlich zeigen lässt.

 

Realschulen müssen Klassengemeinschaften auseinanderreißen

Seit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung im Jahr 2012 dürfen die Eltern entscheiden, auf welche weiterführende Schulart ihr Viertklässlerkind soll. Seither ist die Zahl der Kinder, die das Gymnasium wieder verlassen mussten, deutlich gestiegen. Allerdings habe es auch schon früher Gymnasiasten gegeben, die den Anforderungen dieser Schulart nicht gewachsen waren – „vor allem Schüler aus Klassenstufe neun“, wie Koterbicki berichtet. Deshalb bilde man an ihrer Schlossrealschule im Stuttgarter Westen schon seit rund zehn Jahren eine zusätzliche neunte Klasse. „Wir wollen diesen Schülern einen Neustart in einem geschützten Rahmen geben“, sagt die Schulleiterin. Ihnen sage sie: „Du wirst merken, dass es in der Realschule leichter ist – aber lernen musst du hier auch.“ Zu den Spätaufnahmen gehörten zudem auch Flüchtlinge und Schulschwänzer. Oft müssten Realschulen Klassengemeinschaften auseinanderreißen und die Klassen neu bilden, damit Platz für die Zugänge ist. Seit Familien der Grundschulempfehlung nicht mehr folgen müssen, habe zudem auch die Zahl der jüngeren Wechsler zugenommen. „Manche Eltern merken das schon früh und wechseln, bevor ein Kind nicht versetzt wird – manche wechseln auch erst dann, wenn das Kind im Wiederholungsjahr nicht versetzt wird“, so Koterbicki.

„Man hört oft den Satz: Wir probieren es.“ Aber damit sei es eben nicht getan. „Wenn ein Kind nicht gern lernt, können Eltern es doch nicht bis zum Abi antreiben“, meint die Pädagogin. Deshalb rate sie dringend, den Rat der Grundschullehrer ernst zu nehmen. „Spannend wird es, wenn vom nächsten Schuljahr an die Grundschulempfehlung den weiterführenden Schulen wieder vorgelegt wird“, sagt Koterbicki. Dann könnten auch die Lehrer der weiterführenden Schulen die Eltern von Anfang an beraten, aber bei Bedarf auch nachfragen: „Haben Sie sich das wirklich gut überlegt? Was veranlasst Sie, diese Empfehlung zu übergehen?“

Viele Eltern missachten die Empfehlung der Grundschullehrer

Die Zahlen des Staatlichen Schulamts Stuttgart belegen, dass genau dies bisher ziemlich oft geschieht. Auch wenn Umzüge oder Wechsel auf Privatschulen eine gewisse Unschärfe in die Statistik bringen. Im aktuellen Schuljahr sind demnach von den 830 Viertklässlern mit Hauptschulempfehlung nur 113 tatsächlich auf dieser Schulart gelandet und 235 auf einer Gemeinschaftsschule. Nicht gefolgt sind dieser Empfehlung 396 Kinder, die auf die Realschule gewechselt sind und 60, die das Gymnasium vorzogen.

Von den 1029 Viertklässlern mit Realschulempfehlung folgten 640 dieser Empfehlung, beziehungsweise gingen 72 auf eine Gemeinschaftsschule. Nicht gefolgt sind dieser Empfehlung 304 Kinder, die lieber aufs Gymnasium wollten. Drei Kinder zogen eine Werkrealschule vor.

Von den 2138 Viertklässlern mit Gymnasialempfehlung folgten 1996 Kinder dieser. 123 zogen dennoch die Realschule vor, 16 die Gemeinschaftsschule. Deren Eingangsklassen bestehen somit zum Großteil aus Kindern mit Hauptschulempfehlung (235), gefolgt von Kindern mit Realschulempfehlung (72) und einer sehr überschaubaren Zahl von Kindern mit Gymnasialempfehlung (16).

Im Schulamt denkt man über Außenklassen für Realschulen nach

Auch im Staatlichen Schulamt verfolgt man diese Entwicklung aufmerksam. „Dieses Jahr sind wir in den Realschulen voll“, sagt dessen Vizechef Matthias Kaiser. „Wenn sich die Schülerzahlen an den Realschulen weiter erhöhen, haben wir ein logistisches Problem.“ Als mögliche Option werde man dann erstmals für diese Schulart Außenklassen in Betracht ziehen müssen. Dass künftig auch an den Realschulen der Hauptschulabschluss möglich ist und zwei Niveaustufen angeboten werden, dürfte einen vermehrten Zulauf auf die Realschulen befördern.

An den Gymnasien bemühen sich unterdessen die Lehrer, damit Kinder nicht scheitern – allerdings nicht immer erfolgreich. „Wo es an grundlegenden Kapazitäten fehlt, dem Unterricht zu folgen, sind wir deutlich in der Notengebung“, sagt Holger zur Hausen, der geschäftsführende Leiter der Stuttgarter Gymnasien und Leiter des Zeppelin-Gymnasiums. Manche Kinder hätten bereits zu Beginn der fünften Klasse „so auffallend schlechte Noten, dass man fast schon erschrickt“, berichtet er. Das Problem sei: „Alle Eltern wollen zwar das Beste für die Kinder – aber manchen fehlt eine genaue Vorstellung des Bildungssystems“, so zur Hausen. Hinzu komme: „Es ist schwer, zu manchen Eltern durchzudringen – die stehen unter einem hohen Erwartungsdruck.“ Inzwischen, so der Schulleiter, „leiten wir die fünften Klassen nur noch im Team“, da die Konflikte einem einzelnen Klassenlehrer nicht mehr zuzumuten seien. Die Entscheidung fürs Gymnasium dürfe kein Probieren sein – „es ist die einschneidenste Entscheidung in der Bildungsbiografie der Kinder“. Künftig, so zur Hausen, werde er als Schulleiter den Eltern von Kindern ohne Gymnasialempfehlung ein Beratungsgespräch anbieten. Wenn die Eltern dazu nicht bereit seien, sehe er keinen Grund, das Kind aufzunehmen.

Elterngremium lehnt Vorlage der Grundschulempfehlung an weiterführenden Schulen ab

Der Gesamtelternbeirat der Stuttgarter Schulen hingegen lehnt es ab, dass die Grundschulempfehlung künftig wieder vorgelegt werden muss: „Das wird wieder zu einer Selektion führen“, befürchtet dessen Vorsitzende Kathrin Grix. „Wir wünschen uns aber eine qualifizierte und fundierte Beratung der Grundschulen – und der weiterführenden Schulen.“