Schutzkonzepte in Kitas im Kreis Böblingen Groß für Klein: Schutz gegen Missbrauch

Erwachsene und Kinder – ein immanentes Machtgefälle. Doch das Bewusstsein dafür wächst – und auch, dass das nicht so bleiben muss. Foto: imago stock&people

Wie können Kinder vor sexuellem Missbrauch geschützt werden? Marion Quellmalz-Zeeb von der Beratungsstelle thamar in Böblingen erklärt, wie Eltern und Erziehende ihre Rolle als Verantwortliche erfüllen können und trotzdem Kinder heranziehen, die gegenüber Älteren Grenzen setzen.

Viele Kindertageseinrichtung haben sie bereits, einige sind gerade dabei, sie zu erstellen: Schutzkonzepte gegen sexualisierte Gewalt. Eine gute Sache, sollte man meinen – schließlich wollen Eltern, dass die Kitas für ihre Kinder sichere Orte sind. Gleichzeitig herrscht aber auch große Verunsicherung und Verwirrung, wenn es um präventive Maßnahmen geht. Was „darf“ man überhaupt noch? Was wird einem unterstellt? Welche Berührungen sind tabu? Oft ist zu hören: Um Kinder vor Übergriffen zu schützen, ist es wichtig, ihr Selbstbestimmungsrecht zu stärken. Doch wie können Eltern und Erziehende ihre Rolle als Verantwortliche erfüllen und Kindern zugleich vermitteln, Grenzen zu setzen?

 

Wie funktioniert die Praxis?

Es ist ein schwieriges Unterfangen, die Selbstbestimmung von Kindern und die Verantwortung von Eltern und Erziehenden unter einen Hut zu bringen. Wenn es draußen kalt ist, muss eben nun mal die Jacke angezogen werden, auch wenn das Kind dafür nur wenig Verständnis zeigt. Wenn die Windel voll ist, muss sie irgendwann gewechselt werden, auch wenn einem aus dem Kindermund ein kreischendes „Neiiiin“ entgegenschallt. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Kinder auf ihr Bauchgefühl hören dürfen. Dass sie das Gefühl haben, dass ihr „Nein“ ernstgenommen und akzeptiert wird – ein wichtiger Baustein bei der Prävention von sexuellem Missbrauch. Doch wie lässt sich so etwas in der Praxis umsetzen?

„Kinder brauchen Nähe und Körperkontakt“

Kinder sind von Erwachsenen abhängig – ein Machtgefälle, das bei sexuellen Übergriffen ausgenutzt wird. Marion Quellmalz-Zeeb, Diplom-Pädagogin bei der Beratungsstelle Thamar ist überzeugt, dass es trotzdem möglich ist, Kinder in ihrem Selbstwert zu stärken und ihnen klar zu machen, dass sie ein Recht darauf haben, zu kommunizieren, wann sie körperliche Nähe mögen und wann nicht.

Sexualisierte Gewalt werde oftmals entweder bagatellisiert oder dramatisiert, erklärt Marion Quellmalz-Zeeb. Auch die Diskussion um Schutzkonzepte bildet dabei keine Ausnahme. Von Eltern und Erziehenden im Kreis Böblingen sind Dinge zu hören wie: Ist es übergriffig, wenn ich ein Kind frage, ob es aufs Klo muss? Darf ich ein Kind überhaupt noch am Po festhalten, wenn es klettert? „Kinder brauchen Nähe und Körperkontakt, sie haben Assistenzbedarf“, entgegnet Marion Quellmalz-Zeeb. In vielen Situationen wäre es sogar fahrlässig, das Kind nicht abzusichern, wenn es klettert.

Das eigene Verhalten transparent machen – so können Kinder gestärkt werden

Eine gute Art und Weise, Autonomie in Kindern zu stärken, ist, sein eigenes Verhalten gegenüber den Kindern transparent zu machen, erklärt Marion Quellmalz-Zeeb. Denn Transparenz ist genau das Gegenteil von dem, was sexualisierte Gewalt charakterisiert: Geheimniskrämerei, Vertuschen, Verschleiern. Prävention, so Quellmalz-Zeeb, beginnt dabei im Alltag und mit den kleinen Dingen: Damit, dass man erklärt, warum man das Kind festhält, oder damit, dem Kind eine Wahl zu lassen („Soll ich dir helfen oder kannst du das alleine?“). Klar ist aber auch: Alles ausdiskutieren ist nicht immer möglich. „Das ist eine Herausforderung und da stoßen wir alle an unsere Grenzen und machen auch Fehler. Das gehört mit dazu“, sagt Marion Quellmalz-Zeeb. Trotzdem sei das Bemühen wichtig, ein Kind selbst bestimmen zu lassen, was es mag und was nicht. Will das Kind eine Umarmung oder einen Kuss auf die Backe oder nicht?

Eine weitere Möglichkeit, Kinder in ihrem Selbstwert zu stärken, sei, als Eltern eigene Grenzen zu setzen und diese auch einzuhalten. Dies sei etwas, das Erwachsene oftmals vergessen würden, sagt Quellmalz-Zeeb: „Man selbst hat ja auch eine Grenze, man selbst hat auch ein Recht.“ Erwachsene seien auch nicht immer greifbar für die Bedürfnisse des Kindes. Hier spiele die Vorbildfunktion eine große Rolle: „Jeder Mensch hat Grenzen und das Recht ,Nein’ zu sagen“, sagt die Diplom-Pädagogin.

Wem Thamar hilft

Die Beratungsstelle Thamar steht Vereinen, Einrichtungen und Institutionen als Expertenstelle bei der Entwicklung eines Schutzkonzeptes zur Seite. „Schutzkonzepte helfen dabei, das sich Institutionen selbst auf den Prüfstand stellen“, erklärt Marion Quellmalz-Zeeb. „Früher wurden Übergriffe als individuelle Aktion gewertet“, sagt die Pädagogin. Heute stelle sich neben der individuellen Verantwortung auch die Frage nach strukturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Übergriffe möglich machen und vorbereiten – eine Folge dieser Entwicklung seien Schutzkonzepte.

Bei deren Erstellung würde die Pädagogin allerdings gerne sehen, dass auch Kinder in diesen Prozess einbezogen werden. Marion Quellmalz-Zeeb sagt: „Selbst die Kleinen wissen schon, an welchen Orten sie sich wohl fühlen und an welchen nicht.“ Am Anfang eines jeden Schutzkonzeptes stehe eine Potenzial- und Risikoanalyse in jeder Einrichtung. Außerdem empfiehlt die Pädagogin, dass die Kitas ein sexualpädagogisches Konzept entwickeln. „Das garantiert einen einheitlichen und bewussten Umgang mit dem Thema“, erklärt sie.

„Ein Schutzkonzept sollte kein Hochglanzpapier sein, das in der Schublade liegt“, sagt Quellmalz-Zeeb. Es sei ein längerer Prozess, bei dem der Weg das Ziel sei. Letztlich gehe es dabei um Achtsamkeit und wie das Miteinander gestaltet wird: „Da geht’s um die Kultur, die man jeden Tag lebt.“

Schutzkonzepte für Kitas

Kindesmissbrauch
2022 wurden rund 15 500 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch angezeigt. Die Dunkelziffer ist wohl um einiges höher. 74 Prozent davon beziehen sich auf betroffene Mädchen und 26 Prozent auf Jungen. Aus den Zahlen und Fakten, die durch die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs bereitgestellt werden, geht hervor, dass der Großteil der Übergriffe in der engsten Familie und im erweiterten Bekanntenkreis sowie Vereinen und Einrichtungen stattfindet.

Warum ein Konzept?
Kindertageseinrichtungen können nicht nur Schutzorte, sondern auch Tatorte sein. Kinder können Missbrauch oft nur schwer einschätzen und sind deshalb besonders hilflos, wenn Übergriffe stattfinden. Deshalb braucht es ein Schutzkonzept, um präventive Maßnahmen zu entwickeln und im Falle eines Übergriffs die richtigen Schritte einzuleiten. Dabei ist es wichtig, dass verschiedene Formen der Intervention im Konzept berücksichtigt werden: Es ist ein Unterschied, ob der Übergriff außerhalb der Kita vorgefallen ist, innerhalb der Einrichtung oder gar zwischen Kindern.

Beteiligung
Im Idealfall sollten die Kinder an der Erstellung des Konzepts beteiligt werden. Denn von vornherein charakterisiert die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen ein Machtgefälle. Indem Kinder einbezogen werden, kann dieses verringert werden.

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