Die Antwort auf die „Trumpisiering“, wie Christoph Sonntag den „zunehmenden Egoismus“ nennt, lautet bei ihm: „30 Minuten“. Mit Studierenden der Hochschule Mannheim entwickelt der Kabarettist eine App für soziales Miteinander. Jeder soll im Monat 30 Minuten Gutes tun.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Im Jahr 2012 kam die Dating-App Tinder auf den Markt. Effizient soll der suchende Lover sein Gegenstück finden. Über das Smartphone kann man sich zum Kinobesuch verabreden oder zum unverbindlichen Sex. Dank der geografischen Handy-Ortung sieht der Nutzer, wo sich das mögliche Objekt seiner Begierde befindet – etwa ein paar Straßen weiter oder bei einem Konzert in der selben Halle.

 

Seine Frau hat der 56-jährige Kabarettist Christoph Sonntag – vielleicht noch etwas altmodisch – im realen Leben und nicht bei Tinder kennengelernt. Die digitalen Segnungen faszinieren ihnen aber so sehr, dass er das Prinzip nun übertragen will auf eine neue Art von Nachbarschaftshilfe. Seine Idee heißt „30 Minuten“ und ist für ihn „die soziale Antwort auf Social Media“. Als Partner hat er dafür die Hochschule Mannheim und die IT-Beratungsfirma MHP (Make Happy People) gewonnen.

Studierende entwickeln die neue App

Wenn der Rentner mit der schmerzenden Hüfte einen Tierfreund sucht, der mit dem Hund Gassi geht, kann er dies in seinem Profil bei „30 Minuten“ kundtun. Oder der grippekranke Single, der ein Medikament aus der Apotheke braucht, aber selbst nicht rauskommt, notiert diesen Wunsch in seinem Profil bei „30 Minuten“.

Gleichzeitig schauen Menschen, die helfen wollen, in der neuen App nach, wo in der Nachbarschaft was zu tun ist. Man kann sich dann fragen: Will ich in 300 Meter Entfernung den Rasen mähen für den demenzkranken Mann und dessen überlastete Frau, die ihn pflegt, oder lieber eine Sprudelkiste holen für Frau Maier von gegenüber, die gerade kein Auto hat?

„Wenn jeder Mensch nur 30 Minuten im Monat Gutes tun würde, wie würde unsere Welt dann in 30 Jahre aussehen?“, fragt Sonntag. Von der „empathischen Gesellschaft“ träumt der schwäbische Comedian, dem das Spaßmachen schon lange nicht mehr reicht. Für seine Idee hat er rasch Verbündete gefunden. Die Hochschule Mannheim begleitet das Projekt mit einem Praxissemester seiner Studierenden. Unterstützt von der IT-Firma MHP aus Ludwigsburg, zu 81,8 Prozent eine Porsche-Tochter, wird gerade die App entwickelt, die Zukunftsmusik ist. 2020 soll die Anwendungssoftware mit dem Namen „30 Minuten“ auf den Markt kommen. Christoph Sonntag ist so begeistert davon, dass er sich nicht wundern würde, wenn Facebook seine Idee übernimmt. Er hat sich die App patentieren lassen, aber letztendlich sei es egal, wer sie umsetze. „Mir geht es nur darum, dass soziale Verantwortung von möglichst vielen Menschen wahrgenommen wird“, sagt er.

Sonntag träumt von einer Gegenbewegung gegen Trump

Sind’s nur verrückte Zukunftsträume? Oder können sie auch wahr werden? Noch schöner, als Visionen zu haben, ist es, sie umsetzen zu können. Der Egoismus, den US-Präsident Donald Trump mit seiner Politik verbreite, braucht, wie Sonntag findet, weltweit eine Gegenbewegung.

Seine Mitstreiter von der Hochschule und der IT-Firma sind überzeugt davon, dass der Initiative „30 Minuten“ eine große Zukunft bevorsteht. Bedenken, alten Menschen sei der Umgang mit dem Smartphone fremd, wischen sie weg. Die Enkel etwa könnten der Oma die App runterladen. Die meisten Menschen, die heute 65 Jahre alt sind, nutzten digitale Techniken. Es dauere nicht mehr lang, dann seien sie alt und vielleicht auf Unterstützung angewiesen. Aber die neue Plattform richte sich ohnehin nicht nur an Hochbetagte, Hilfe bräuchten auch jüngere Menschen. Der zunehmenden Vereinsamung allein vor Computern könnte eine soziale App entgegenwirken.

Die Macher von „30 Minuten“ haben sich bereits ein Bezahlungssystem ausgedacht. Wer Hilfe leistet, bekommt einen Terra gutgeschrieben. Diejenigen, die Hilfe in Anspruch nehmen, müssen zwar nichts bezahlen. Aber Sponsoren könnten die App mit Geld unterstützen, das dann irgendwann einmal den Helfern ausgezahlt wird. „Wir Kabarettisten oder Journalisten helfen ohne Entlohnung“, erklärt Christoph Sonntag seine Idee, „aber der Lagerarbeiter, der seinen Job verliert, kann damit Geld verdienen.“

2019 heißt es bei dem Kabarettisten: „Sonntag Wörldwaid“

Im neuen Jahr will der Kabarettist viel Zeit auf die Realisierung der sozialen App verwenden. Der 56-Jährige legt 2019 eine Tourpause im Land ein. Nur bei einigen wenigen Sonderveranstaltungen wird er hier auftreten. Spaß jedoch will er „auf allen Kontinenten“ verbreiten. Sein Motto lautet auf gut Schwäbisch: „Sonntag Wörldwaid“. Zu fünf längeren Auslandsreisen wird er aufbrechen – mit Unterstützung von Sponsoren, wie das bei dem in Bad Cannstatt lebenden Schwaben üblich ist. Auch das SWR-Fernsehen ist mit im Boot: An Orten, wo Schwaben in der Ferne leben, sollen Filme gedreht werden.

Und auf allen Kontinenten will er über seine 30 Minuten sprechen – über eine halbe Stunde, mit der jeder Hoffnung auf ein bisschen mehr Glück für alle geben kann. Reichen 30 Minuten, um die Welt zu retten? Vielleicht nicht ganz. Aber wer gar nichts versucht, hat schon verloren.