Es ist ein Grünen-Vorschlag mit Brisanz: für alle Straftaten, die im Zusammenhang mit der Demonstration und dem Polizeieinsatz am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten begangen wurden, soll es eine Amnestie geben. Die SPD reagiert reserviert.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Soll es für alle Straftaten, die im Zusammenhang mit der Demonstration und dem Polizeieinsatz am 30. September 2010 im Stuttgarter Schlossgarten begangen wurden, eine Amnestie geben? Über diese Frage bahnt sich in der grün-roten Regierungskoalition, aber auch innerhalb der Grünen, eine kontroverse Debatte an. Der Grünen-Fraktionsgeschäftsführer Hans-Ulrich Sckerl hatte angeregt, über einen solchen allgemeinen Straferlass nachzudenken. Dieser könne eine Möglichkeit sein, die immer noch tiefen Gräben nach dem „schwarzen Donnerstag“ zuzuschütten und dauerhaft „Rechtsfrieden“ herzustellen.

 

Gegenüber der Stuttgarter Zeitung bekräftigte Sckerl den Denkanstoß, den er öffentlich erstmals im Dezember bei einer Grünen-Veranstaltung zum „schwarzen Donnerstag“ gemacht hatte. Er wolle ihn in den nächsten Wochen intern zur Diskussion stellen. Bisher habe es in der Fraktion und in der Koalition mit der SPD darüber noch keine vertieften Gespräche gegeben. Auch die konkrete Ausgestaltung einer möglichen Amnestie sei noch völlig offen. Das Ziel sei zu verhindern, dass die Aufarbeitung der Demonstration und des Polizeieinsatzes zu einem „unendlichen Konflikt“ werde.

Justizminister Stickelberger (SPD) reagiert reserviert

Im Gegensatz zur Begnadigung, die sich stets auf einzelne Fälle bezieht, würde eine Amnestie für ganze Gruppen gelten. Bereits festgesetzte Strafen könnten dadurch erlassen, laufende Verfahren unter Umständen eingestellt werden. Voraussetzung für eine Amnestie wäre ein entsprechendes Gesetz, das vom Bundestag oder vom Landtag erlassen werden müsste. Nach Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung wurden solche Gesetze in Deutschland in den Jahren 1949, 1954 und 1968 erlassen jeweils aufgrund des Wegfalls oder der Milderung von Vorschriften des politischen Strafrechts. 1970 sei mit dem Straferlass auf eine Änderung des Demonstrationsrechts reagiert worden.

Der Landesjustizminister Rainer Stickelberger (SPD) reagierte gegenüber der StZ reserviert auf den Vorschlag Sckerls. Dieser sei bisher nicht Thema von Gesprächen in der Koalition gewesen, teilte seine Sprecherin mit. Eine Befassung der Koalition oder des Kabinetts wäre aber selbstverständlich Voraussetzung für ein solches Vorhaben: „Es läge nicht in der Entscheidung oder Einschätzung eines einzelnen Ministers.“ Auch in der Sache zeigte sich Stickelberger skeptisch: Nach der verfassungsrechtlichen Ordnung könne eine Amnestie „allenfalls beim Vorliegen tragfähiger, außergewöhnlicher Gründe erwogen werden“. Wie hoch die Hürden seien, zeige sich auch daran, dass es in der Bundesrepublik Deutschland „nach unserer Kenntnis bislang keine Amnestie gegeben hat, die an ein lokales Einzelereignis geknüpft wurde“. Gründe, von dieser Staatspraxis abzuweichen, „sind bislang nicht erkennbar“, ließ der Minister mitteilen.

Aufarbeitung ist noch nicht abgeschlossen

Auch innerhalb der Grünen wurde die Anregung zurückhaltend aufgenommen. So mahnte Klaus Amler vom Stuttgarter Kreisvorstand, man müsse „gut überlegen, was amnestiert werden soll und wo die Grenze liegt“. Den Vorschlag Sckerls bezeichnete er als ein „zartes Pflänzchen“.

Die juristische Aufarbeitung des „schwarzen Donnerstags“ ist auch nach mehr als zwei Jahren noch nicht abgeschlossen. Nach der Zwischenbilanz des Justizministeriums vom Spätjahr 2012 wurden mehr als 500 Verfahren gegen Demonstranten und Polizeibeamte eingeleitet. Knapp 120 davon laufen noch, 26 waren oder sind bei Gericht anhängig – davon 23 gegen Projektgegner und drei gegen Polizeibeamte. Mit Spannung wird besonders das Ergebnis der Ermittlungen rund um den Einsatz von Wasserwerfern erwartet, das fürs Frühjahr angekündigt ist.