Seit Mitte 2014 ist der Ölpreis um 75 Prozent gefallen. Während sich Deutschland über den Schwung für die Konjunktur freut, geraten viele Förderländer an den Abgrund.

Stuttgart - Der Aufschrei war groß, aber kurz: Auf minus 50 US-Cent soll der Preis für ein Barrel Öl (rund 159 Liter) der Sorte North Dakota Sour vor einer Woche gefallen sein, vermeldete die Nachrichtenagentur Bloomberg und veröffentlichte dazu einen Screenshot der Preisnotierung. Das hieße, der Verkäufer hätte dem Käufer etwas dafür gezahlt, dass der ihm das Öl abnimmt. Später sei die Preisliste korrigiert worden: auf 1,50 Dollar, was auch schon rekordverdächtig wenig wäre. Auch wenn die Sorte North Dakota Sour ein relativ minderwertiges, weil stark schwefelhaltiges Öl ist – Anfang 2014 notierte das Barrel aber immerhin noch bei 47 Dollar.

 

Die Geschichte vom North Dakota Sour ist eine Anekdote, aber sie zeigt, wie extrem die Nachrichten vom Ölmarkt zurzeit ausfallen. Seit Mitte 2014 sind die Preise um 75 Prozent gefallen. Zuletzt haben die Referenzsorten West Texas Intermediate (WTI) und Brent unter der 29-Dollar-Marke notiert. Am Freitag sind die Preise zwar gestiegen, aber das gilt keineswegs als Trendwende. Die Tendenz ist weiter fallend.

Der Ölmarkt droht in Überversorgung zu ertrinken

Es gibt nicht den einen Grund, warum der Ölpreis so stark fällt. Dahinter steckt vielmehr ein Strauß von Gründen, und es lohnt, den Blick etwas weiter zurück zu richten. Denn schon in den vergangenen Jahren hat sich der Ölpreis anders entwickelt, als die politische Lage insbesondere im Nahen Osten nahegelegt hätte. Er ist nicht so gestiegen, wie er es üblicherweise getan hätte. Schuld daran war der Fracking-Boom in den USA. Mit der umstrittenen Technik des Frackings werden schwer zugängliche Ölvorkommen in Schiefergestein gefördert. Die USA – eigentlich schon seit Jahren kein bestimmender Spieler auf dem Ölmarkt mehr – kehrten mit dieser Technik auf den Weltmarkt zurück und begannen sogar, das erste Mal seit 1973 wieder Öl zu exportieren. Seit Mitte 2014 geht der Ölpreis ausgehend von etwa 115 Dollar kontinuierlich zurück.

Üblicherweise reagiert die Organisation Erdöl exportierender Länder (Opec) auf solche Entwicklungen mit Förderkürzungen, um den Ölpreis durch eine Angebotsverknappung in einem vordefinierten Preiskorridor zu halten. Dieses Mal tut sie das nicht, obwohl das Angebot deutlich die Nachfrage übersteigt. Da gleichzeitig aber das Wirtschaftswachstum des weltgrößten Ölimporteurs China nachlässt, und der Winter auf der Nordhalbkugel bisher ungewöhnlich mild ausfällt, geht die Nachfrage sogar noch zurück: Von 2,1 Millionen Barrel am Tag im dritten Quartal 2015 auf aktuell 1,0 Millionen Barrel, wie die IEA in ihrem Ölmarktreport für Januar schreibt. Derzeit werde weltweit doppelt so viel Öl gefördert wie verbraucht, so die IEA. Die Förderung übersteigt schon das dritte Jahr in Folge die Nachfrage. Der Ölmarkt, so formuliert die Behörde plastisch, drohe 2016 in der Überversorgung zu ertrinken.

Projekte im Wert von 400 Milliarden Dollar liegen auf Eis

Bei welchen Marktpreisen es sich lohnt, Öl zu fördern, ist von Feld zu Feld, von Staat zu Staat unterschiedlich. Von der US-Frackingbranche heißt es, sie brauche ein Preisniveau von 60 bis 70 Dollar für ein Barrel, um profitabel arbeiten zu können. Bereits erschlossene Vorkommen in Saudi-Arabien hingegen werfen auch dann noch Gewinne ab, wenn die Preise auf zehn Dollar fallen, wie Klaus-Jürgen Gern vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel sagt. Insofern könne Saudi-Arabien, eines der ölreichsten Länder der Welt, es sich leisten, für eine Weile niedrige Marktpreise auszuhalten, um so neue Ölquellen in anderen Weltregionen auszutrocknen, die erst bei höheren Marktpreisen profitabel sind. Dies, so Gern, betreffe insbesondere Fracking-Öl, aber auch solches aus Tiefseebohrungen, arktische Vorkommen oder kanadische Ölsande. In der Tat liegen Investitionen in die Erschließung solcher Vorkommen derzeit fast überall auf Eis. Insgesamt kommen nach Einschätzung von Experten derzeit in der Branche Projekte einer unvorstellbaren Größenordnung von 400 Milliarden Dollar nicht zustande. Die Strategie geht also auf.

Zudem könne es Saudi-Arabien mit den niedrigen Ölpreisen eventuell gelingen, das Wiedererstarken des großen Rivalen Iran zu verhindern, erklärt IfW-Experte Gern. Seitdem kürzlich die internationalen Sanktionen im Rahmen des Atomabkommens weggefallen sind, darf der Iran wieder ungehindert Öl exportieren (bisher war die Menge auf gut eine Million Barrel am Tag gedeckelt). Entsprechend hatte der Vizeölminister des bis 2012 zweitgrößten Ölproduzenten der Opec angekündigt, in Kürze 500 000 Barrel Öl am Tag mehr zu exportieren, was Saudi-Arabien verhindern möchte.

Ein Autofahrer spart 200 Euro pro Jahr

Zu guter Letzt wolle Saudi-Arabien wohl auch nicht das einzige Opec-Land sein, dass seine Förderung reduziert, mutmaßt Gern, und die anderen Staaten der Organisation zeigen bis jetzt keine Tendenz zur Selbstbeschränkung. Eine niedrigere Fördermenge wäre ein Risiko für die Saudis, denn es ist nicht ausgemacht, dass eine einseitige Kürzung auch tatsächlich zu einem höheren Marktpreis führen würde. Das haben entsprechende Erfahrungen in den achtziger Jahren gelehrt. Noch niedrigere Öleinnahmen aber wären für das Land am Persischen Golf fatal – schon im vergangenen Jahr fuhren die Scheichs, deren Staatshaushalt fast ausschließlich am Öltropf hängt, ein Haushaltsdefizit von 100 Milliarden Dollar ein.

An deutschen Zapfsäulen ist der Liter Diesel zurzeit im bundesweiten Durchschnitt für 94 Cent zu haben, der Liter Superbenzin E10 kostet durchschnittlich 1,18 Euro. Das sind 30 Cent weniger als der Höchststand der vergangenen zwölf Monate. Bleiben die Preise so niedrig, kann ein durchschnittlicher Autofahrer dieses Jahr mehr als 200 Euro Benzinkosten sparen. 100 Liter Heizöl (bei Abnahme von 3000 Litern inklusive Steuer) sind zurzeit für 40 Euro zu haben.

Der Einzelhandel profitiert vom billigen Sprit

Insgesamt wirken die niedrigen Energiepreise in Kombination mit dem Zinstief wie ein kleines Konjunkturprogramm, stellt das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in seinen jüngsten Konjunkturerwartungen fest. „Gerade niedrige und mittlere Einkommen profitieren davon, wenn nach dem Tanken mehr Geld im Portemonnaie bleibt“, sagt der Leiter des Fachbereichs internationale Finanzmärkte am ZEW, Sascha Steffen. Das belebe beispielsweise den Einzelhandel. Das kalenderbereinigte Wachstum von 1,5 Prozent 2015 sei vor allem von der Binnennachfrage getrieben worden und nicht wie üblich vom Export. Trotzdem profitieren natürlich auch die Unternehmen von niedrigen Treibstoffpreisen, das gilt insbesondere für die Chemieindustrie und Airlines.

„Ökologisch ist das ein Desaster“

Die Gefahr einer Deflation, also einer zurückgehenden Preisentwicklung, sieht Steffen in Deutschland nicht. Dies wird mitunter befürchtet, da die niedrigen Teuerungsraten der vergangenen Monate nicht zuletzt auf die niedrigen Energiepreise zurückgingen. Allerdings werden die Kraftstoffpreise wohl auch nicht mehr deutlich weiter sinken, weil ein großer Teil des Preises an der Zapfsäule auf die Mineralöl- und die Mehrwertsteuer entfällt: die Nachrichtenagentur dpa hat errechnet, dass der Dieselpreis deshalb wohl kaum unter 85 Cent, der Preis für Super nicht unter 1,10 Euro fallen wird. Einzig bei Heizöl gibt es Spielraum, weil die Steuerlast deutlich niedriger ist.

„Für die Verbraucher mag der niedrige Ölpreis schön sein“, sagt Tobias Austrup, Energieexperte der Umweltorganisation Greenpeace, „aber ökologisch ist das ein Desaster.“ Gerade in den Bereichen, die sich nicht so gut entwickelten wie der Strommarkt, also auf dem Wärmemarkt und beim Verkehr, werde eine ohnehin zarte Dynamik zunichtegemacht, weil viele Verbraucher aufgrund der „hoffentlich nur vorübergehenden“ Niedrigpreisphase langfristige Kaufentscheidungen träfen – sei es für eine Ölheizung oder für ein benzin- oder gar dieselbetriebenes Auto. Für den Klimawandel bedeutete die aktuelle Preisentwicklung verlorene Jahre, klagt Austrup.

Schon 40 Insolvenzfälle

Das, so der ZEW-Experte Steffen, ist keineswegs so klar, denn generell sei ein niedriger Ölpreis in der Regel oft ein Indikator für eine nachgebende Weltwirtschaftsentwicklung. Während Öl importierende Länder wie Deutschland derzeit vom Preisniveau auf den Rohstoffmärkten profitieren, leiden andere enorm darunter (dazu unten mehr) – und die sind im Zweifel auch die Kunden der exportlastigen deutschen Unternehmen. Hinzu komme ein besonderes Risiko in den USA, denn dort geraten insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen der Frackingbranche enorm unter Druck – einer Branche, die stark kreditfinanziert ist. Die US-Rechtsanwaltskanzlei Haynes and Boone’s zählt in einem aktuellen Bericht mehr als 40 Insolvenzfälle unter nordamerikanischen Gas- und Erdölproduzenten im Jahr 2015 auf. Auf sie entfalle ein teils ungesichertes Kreditvolumen von 17 Milliarden Dollar. Und es gebe Anzeichen für kommende Pleiten, so die Kanzlei. Eine Finanzkrise wie 2008/09 befürchtet Steffen derzeit nicht – „aber eine branchenabhängige Krise kleineren Ausmaßes“ könne drohen.

Angesichts der Probleme anderer Länder sind die USA allerdings wohl noch in einer sehr komfortablen Lage, denn etliche Öl fördernde Staaten leiden teils in bedrohlichem Ausmaß unter den niedrigen Preisen. So musste beispielsweise Venezuela den nationalen Notstand ausrufen und ächzt derzeit unter der höchsten Inflationsrate weltweit: 141,5 Prozent. Ähnlich nah an die Staatspleite könnten auch Nigeria und Angola geraten, sagt der IfW-Experte Gern, zumal deren Förderkosten relativ hoch seien, weil die Vorkommen schwerer zugänglich sind und großenteils im Meer liegen. In eine zunehmend schwierige Lage gerät zurzeit zudem auch Russland, wo rund die Hälfte der Staatseinnahmen auf Rohstoffverkäufe entfällt, die Wirtschaft unter Sanktionen leidet und der Rubel schwach ist. Moskau rechnet für 2016 mit einem Haushaltsdefizit von 36 Milliarden Euro. Bleibe der Preis auf dem derzeitigen Niveau, könnte das Inlandsprodukt um fast vier Prozent schrumpfen, warnt der russische Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew.

Eines von drei Risiken für die Weltwirtschaft

Diese Länder sind nur einige Beispiele. „Es ist schwer abzuschätzen, welche Folgen das für die Weltwirtschaft hat“, sagt Gern: „Wir könnten eine ausgemachte Schwellenländerkrise erleben, zumal auch andere Rohstoffpreise zurzeit stark zurückgehen.“ Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) bezeichnete den Ölpreisverfall als eines von drei Risiken für die Weltwirtschaft zurzeit – doch die niedrigen Preise seien „nicht nur negativ“, sagte der IWF-Chefökonom Maurice Obstfeld jüngst. Auch wenn die Entwicklung Druck auf Öl exportierende Länder ausübe, zumal auf solche, deren Staatshaushalt am Öl hänge, „sind die Effekte für die Verbraucher doch eine gute Seite“.

Die große Frage ist nun, wohin sich der Ölpreis bewegen wird. Die IEA sagt voraus, dass sich die niedrigen Preise zumindest dieses Jahr halten und ihren bisherigen Tiefpunkt noch unterschreiten werden. Die Bank Morgan Stanley sieht diesen Tiefpunkt bei 20 Dollar, Standard Chartered hält auch zehn Dollar für möglich. Einig sind sich aber alle in einem: schnell werden sich die Preise nicht erholen. Dahinter mag auch Vorsicht stecken: Mit einer gegenteiligen Prognose sind viele Banken bereits ein Jahr zuvor auf die Nase gefallen.