Er ist einer der populärsten deutschen Künstler. Den größten Teil seines Lebens verbrachte Ernst Ludwig Kirchner jedoch in Davos - eine Spurensuche.

Davos - In der Nacht hat es etwa 15 Zentimeter Neuschnee gegeben. Die Grabsteine und Kreuze auf dem Davoser Waldfriedhof tragen dicke weiße Zipfelmützen. Viele ragen nur etwa zur Hälfte aus der weißen Pracht. Das Grab von Ernst Ludwig Kirchner ist deshalb schwer zu finden - selbst für Besucher, die wissen, wo sie suchen müssen. Mit bloßen Händen legt Thorsten Sadowsky nach zwei Fehlversuchen die richtige Inschrift frei: „Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938“ steht in goldenen Lettern auf dunkelgrauem Granit. Schlicht ist die letzte Ruhestätte des international gefeierten deutschen Expressionisten. „Kirchner gilt zwar als populärster Vertreter der Klassischen Moderne in Deutschland, doch er lebte und arbeitete 20 Jahre lang in Davos“, sagt Sadowsky, Direktor des Kirchner-Museums.

 

„An keinem Ort hielt er sich länger auf, keiner bot ihm mehr Inspiration.“ Vor diesem Hintergrund sei es richtig, dass das weltweit einzige Museum, das sich seinem Leben und Werk widmet, hier in Davos zu finden sei. Nur 100 Meter Luftlinie vom Waldfriedhof entfernt, auf einer Wiese hinter seinem Wohnhaus auf dem Wildboden, hatte Kirchner am 15. Juni 1938 seinem Leben ein Ende gesetzt - mit zwei Kugeln aus seiner Browning, Kaliber 7,65. Er wurde nur 58 Jahre alt. Da Kirchner keinen Abschiedsbrief hinterließ, sind die Motive für den Suizid nicht bekannt. Doch Sadowsky kann mehrere Gründe nennen, die dem Künstler, der zeit seines Lebens psychisch labil war, in den Selbstmord getrieben haben könnten. „Seit der Machtergreifung der Nazis wurde Kirchner aus dem deutschen Kunstbetrieb ausgegrenzt. Der Verkauf seiner Bilder stockte, was zu finanziellen Engpässen führte.“ Dass seinem Werk 1937 der Stempel „Entartete Kunst“ aufgedrückt wurde, sei für Kirchner schwer zu ertragen gewesen.

In den Schweizer Bergen nicht mehr sicher

Im März 1938 marschierten die Nationalsozialisten in Österreich ein. „Kirchner hat dies als massive Bedrohung empfunden und fühlte sich in den Schweizer Bergen nicht mehr sicher“, erläutert der 52-Jährige. Kirchners ehemaliges Wohnhaus am Wildboden ist ein schlichtes Bauernhaus Walser Bauart: das Erdgeschoss gemauert, der erste Stock aus grob behauenen, dunklen Holzbalken gezimmert. Die Fensterläden sind geschlossen, vor der Haustür türmt sich der Schnee. Wer im Winter hierherkommt, kann sich nur schwer vorstellen, wie Kirchner, der selbst als reifer Mann noch ein sensibel-jungenhaftes Aussehen hatte, die kalten Monate hier ausgehalten hat. „Es ist bekannt, dass er sich im Winter regelmäßig in eines der Davoser Hotels einmietete, um ein Bad zu nehmen und das zivilisierte Leben zu genießen“, weiß Sadowsky. Er ist überzeugt, dass es vor allem Kirchners Begeisterung für das Authentische, das Nicht-Urbane war, warum der Künstler an seine Leben in der Schweizer Bergwelt festgehalten hat.

Vom Wildboden aus genießt Kirchner freien Blick auf die umliegenden Gipfel und hinauf zur Stafelalp, wo er nach seiner Ankunft in Davos mehrfach die Sommer verbracht hat. Auf der weitläufigen Wiese hinter dem Haus frönte der Expressionist im Sommer einer weiteren Leidenschaft, dem Bogenschießen - zumeist mit Freunden, wie zahlreiche Skizzen, Zeichnungen und Fotos belegen. „Weitere Aktzeichnungen entstanden da unten am Wasser“, sagt Sadowsky und deutet auf den Sertigbach, der nur einen Steinwurf vom Wildboden entfernt durch das verschneite Seitental plätschert. Am schönsten ist jedoch der Blick von hier oben hinunter auf Davos. Auch den Künstler muss dieses Panorama fasziniert haben. Er hat es auf mehreren Bildern verewigt. Das wohl bekannteste ist das Ölgemälde „Davos mit Kirche, Davos im Sommer“ von 1925. Es wird zusammen mit anderen Werken des Künstlers im Kirchner-Museum präsentiert. „Es sind vor allem der Farbenreichtum und die subjektive Farbgebung in den Gemälden von Kirchner, die bis heute begeistern“, so der promovierte Historiker und Ethnologe.

In dem lichtdurchfluteten Ausstellungsraum zieht noch ein weiteres Exponat den Betrachter in seinen Bann: ein Bettgestell aus Holz, dessen Pfosten mit figürlichen Schnitzereien im Stil der Südseeinsulaner verziert sind. „Kirchner hat dieses Bett für Erna Schilling gemacht, die wohl wichtigste Frau in seinem Leben“, erklärt Sadowsky, „als eine Art Liebeserklärung“. Er habe seine Lebensgefährtin damit bewegen wollen, ihm in die Bergeinsamkeit der Schweiz zu folgen. „Was sie 1921 auch tat.“ 1918 hatte sich Kirchner, Mitbegründer der Künstlergruppe „Brücke“, paralysiert vom Ersten Weltkrieg und gezeichnet von seiner Alkohol- und Morphiumabhängigkeit, in Davos niedergelassen. Zuvor hatten Klinikaufenthalte im Taunus und am Bodensee für seine Leiden keine Linderung gebracht. Erna Schilling ist ab 1911 Kirchners Muse, Model, Managerin und oft genug auch Krankenschwester. An das Landleben in Davos wird sich die Berlinerin jedoch nie gewöhnen. Während es Kirchner in Davos zwischenzeitlich gesundheitlich besser geht, leidet sie wiederholt an Phasen schwerer Depression.

Es kommt immer wieder zu Streit zwischen dem Paar, das eine sehr schwierige Beziehung führt. Sadowsky: „Am 10. Mai 1938 - also etwa einen Monat vor seinem Freitod - beantragt Kirchner bei der Gemeinde Davos das Aufgebot für die Eheschließung, zieht es aber am 12. Juni wieder zurück.“ Warum er ihr die Anerkennung als Ehefrau letztlich verweigerte, bleibt unklar. Die Gemeinde Davos gewährt Schilling nach Kirchners Freitod, was sie sich sehnlichst wünschte. Sie darf den Namen Kirchner auch ohne Trauschein offiziell tragen. Nach ihrem Tod wird sie direkt neben dem Grab des Künstlers auf dem Waldfriedhof beigesetzt. In goldenen Lettern steht da auf dunkelgrauem Granit: Erna Kirchner 1884 - 1945 .

Kirchner-Museum Davos

Kirchner-Museum
Adresse: Ernst-Ludwig-Kirchner-Platz, 7270 Davos, Tel. 00 41 / 8 14 10 63 00, Eintrittspreise: Erwachsene 12 CHF (9.80 Euro), ermäßigt 5 CHF (4,10 Euro).

Öffnungszeiten: Weihnachten bis Ostern und Juli bis September: Di. bis So. 10 bis 18 Uhr, übrige Zeit 14 bis 18 Uhr, www.kirchnermuseum.ch

Ausstellungen
Derzeit zeigt das Museum noch bis 21. April Werke von Georg Baselitz. Vom 25. Mai bis 8. November wird die Ausstellung „Schöne Fremde“ der österreichischen Filmemacherin, Fotografin und Medienkünstlerin Lisl Ponger zu sehen sein.

Vom 23. November bis 19. April 2015 steht eine Ausstellung des Davoser Expressionisten Philipp Bauknecht (1933) auf dem Programm - eine Kooperation mit dem Museum Würth.

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