Schweiz Die Zukunft liegt im Tunnel
Felsstürze, Erdrutsche und Schlammlawinen beschädigen und zerstören mehr und mehr Schweizer Straßen. Ist das Land für die Risiken gerüstet? Absehbar ist: Der Schienenverkehr bekommt einen noch höheren Stellenwert.
Felsstürze, Erdrutsche und Schlammlawinen beschädigen und zerstören mehr und mehr Schweizer Straßen. Ist das Land für die Risiken gerüstet? Absehbar ist: Der Schienenverkehr bekommt einen noch höheren Stellenwert.
Alle Zufahrtsstraßen in das Dörfchen Brienz sind verbarrikadiert, sogar mit Betonsperren. Die 91 Bewohnerinnen und Bewohner mussten im November den beschaulichen Ort im Schweizer Kanton Graubünden verlassen. Das Betreten von Brienz ist seitdem verboten. Der Grund: Oberhalb der Siedlung bewegt sich eine riesige Masse von 1,2 Millionen Kubikmeter loser Erde, Fels und Geröll. Diese Schuttlawine „könnte das Dorf mit 80 oder mehr Stundenkilometern erreichen und dort große Zerstörung anrichten“, warnt die Gemeinde.
Der „Brienzer Rutsch“ steht für die Urgewalt der Natur, die sich in dem Gebirgsland Schweiz immer wieder entfesselt, Menschen bedroht, Gebäude vernichtet und wichtige Verkehrsadern lahmlegt.
In diesem Jahr häufen sich die beunruhigenden Meldungen aus dem Transitland im Herzen Europas: Sogenannte Massenbewegungsgefahren verwandeln Auto-, Bus –oder Lkw-Fahrten mitunter in Risikotrips. Steinschläge, Felsstürze, Erdrutsche und Murgänge, die berüchtigten Schlamm- und Gerölllawinen, donnern immer öfter von oben herab. Die Verkehrs-Drehscheibe Schweiz wird zur Gefahrenzone.
Im August prasselten Felsbrocken auf die alte Axenstraße im Kanton Uri. Die Route am Ostufer des Vierwaldstättersees dient als zentraler Zubringer zum Gotthard-Straßentunnel, dem wichtigsten Nord-Süd-Korridor für Fahrzeuge in den Schweizer Alpen. Im selben Monat verwüstete ein Unwetter Teile eines Ortes im Kanton Bern, der ebenfalls Brienz heißt, Wege und Straßen wurden unpassierbar. Grindelwald war infolge einer Schlamm- und Gerölllawine großenteils von der Außenwelt abgeschnitten. Ende Juni zerstörten Wasser- und Felsmassen einen Teilabschnitt der San-Bernardino-Autobahn, der zweitwichtigsten Schweizer Nord-Süd-Verbindung für Fahrzeuge. Etwa zur gleichen Zeit gab es auch am Simplon-Pass kein Durchkommen mehr. Murgänge hatten Geröll in den Schutzraum für die Straße, die Galerie, gedrückt.
Die Liste der Unglücke, die durch den Klimawandel mitverursacht werden, ließe sich fortsetzen. „Es gibt kaum einen Ort in der Schweiz, an dem nicht eine Naturgefahr auftreten kann“, sagte unlängst Gian Reto Bezzola, Sektionschef Risikomanagement beim Bundesamt für Umwelt dem Sender SRF: „Darum sind wir potenziell alle betroffen“. Das gilt vor allem für die Teilnehmer am Schweizer Straßenverkehr. Viele Strecken des Nationalstraßennetzes befinden sich, wie es heißt, „aus topografischen Gründen in einer Gefährdungszone“. Das betont das Bundesamt für Straßen, das für die Autobahnen und weitere Nationalstraßen zuständig ist. „Heute sind rund 300 Kilometer des über 1850 Kilometer langen Nationalstraßennetzes Naturgefahren wie Murgängen, Erdrutschen, Lawinen, Felsstürzen oder Steinschlägen ausgesetzt.“
Die immer rascher aufeinanderfolgenden Extremwetter und die Straßenschäden lassen in der Schweiz bange Fragen aufkommen: Ist das Verkehrssystem für die Bedrohungslage gerüstet? Muss das Land künftig noch mehr auf die Schiene setzen?
Bryan Adey, Professor für Infrastruktur an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, prognostiziert gegenüber unserer Zeitung genau das. Der Experte sagt voraus, dass der Transport von Menschen und Gütern zunehmend auf Schienen und in Tunneln erfolgen wird. „Die Vorteile scheinen einfach die Kosten bei weitem zu überwiegen“, analysiert Adey. Er zählt die Pluspunkte des Schienen- gegenüber dem Straßenverkehr auf: Eine geringere Umweltbelastung, eine geringere Beeinträchtigung der biologischen Vielfalt, eine höhere Widerstandsfähigkeit gegen Naturgefahren „und eine bessere Ästhetik“. Die Schweizer Bevölkerung scheint das ähnlich zu sehen. Im November entschied sich eine Mehrheit der Stimmberechtigten gegen sechs Ausbauprojekte auf den Schweizer Autobahnen, die Milliarden gekostet hätten.
Doch derzeit dominiert noch die Straße das Schweizer Verkehrssystem. Insgesamt weise das System eine „hohe Resilienz“ auf, sagt Infrastruktur-Experte Adey. Unter Resilienz versteht der Professor „die Fähigkeit, den Betrieb fortzusetzen, wenn ein störendes Ereignis eintritt“. Als Beispiel nennt er den Wiederaufbau der San-Bernardino-Route, der A13: Nachdem Ende Juni der reißende Fluss Moesa einen 200 Meter langen Abschnitt weggerissen hatte, eröffneten die Eidgenossen schon Anfang September die Route wieder vollständig. Die zügige Instandsetzung durch das Bundesamt für Straßen und private Bauunternehmen lobt Experte Adey im Rückblick als „erstaunlich“.
Insgesamt verlässt sich das Straßenamt auf einen umfangreichen Abwehr-Mix gegen Naturereignisse: Sogenannte Gefahrenkarten zeigen online, wo Siedlungen und Verkehrswege bedroht sind. Die laufend aktualisierten Karten klären über Ausmaß und Wahrscheinlichkeit auf, mit der eine Massenbewegung auftreten kann. Auch baulich beugen die Schweizer vor: So soll der neu entstandene A13-Abschnitt extremen Wettersituationen besser trotzen. Die Planer verstärkten den Straßenverlauf zum Fluss Moesa hin mit Gesteinsblöcken. „Zudem wurde eine Schutzmauer am Fahrbahnrand flussseitig erstellt“, bestätigt Amtssprecherin Martina Wirth. Zudem spannen die Eidgenossen in Risikozonen große Steinschlagnetze auf, um Verkehrsteilnehmer vor unliebsamen Überraschungen von oben zu bewahren.
Vor allem sollen Tunnels die Verkehrsteilnehmer vor den Launen der Natur abschirmen. „Wenn es sich bei den Störereignissen um solche handelt, die durch extreme Regenfälle oder allgemein durch Stürme verursacht werden, dann hat es viele Vorteile, Teile des Verkehrssystems unterirdisch zu verlegen“, erläutert Adey.
Die Kantone Uri und Schwyz vertrauen der Tunnellösung entlang des Neubaus der Axenstraße. Der Felssturz vom August auf die alte Axenstraße markierte nur eines der vielen Unglücke in den vergangenen Jahrzehnten: Im Jahr 2019 mussten die Behörden die Route infolge von Felsstürzen und Murgängen für acht Wochen sperren. Jetzt soll der zwölf Kilometer lange Neubau, der auf einer Strecke von rund zwei Drittel durch Tunnels verläuft, den Fahrern die Angst nehmen. Die „neue Axenstrasse mit dem Sisikoner Tunnel und dem Morschacher Tunnel erhöht die Verkehrssicherheit und Verfügbarkeit nachhaltig“, bilanziert Stefan Gielchen, der Gesamtleiter des Bauprojekts. „Die Route ist künftig vor Naturgefahren optimal geschützt.“
Allerdings hat die unterirdische Infrastruktur auch Nachteile. Zunächst fallen hohe Kosten an: So müssen die Schweizer für den Neubau der Axenstraße eine Milliarde Franken aufbringen. Zudem ziehen sich die Projekte unter Tage in die Länge: So rechnen die Kantone Schwyz und Uri mit rund elf Jahren Gesamtbauzeit für die neue Axenstraße. Im Jahr 2033 dürfte, „wenn alles plangemäß läuft“, die neue Axenstraße dem Verkehr übergeben werden. Und: Sind Tunnelbauten erst einmal in Betrieb, dauern Renovierung- und Instandsetzung in den Röhren in der Regel länger als unter freiem Himmel. Das gilt sowohl für den Straßen- als auch den Schienenverkehr. So zogen sich die Arbeiten im Gotthard-Basistunnel nach der Entgleisung eines Zuges im August 2023 mehr als ein Jahr lang hin.