Sexuelle Übergriffe, vergiftetes Klima: Michael Sidibé, der Chef von Unaids, sollte eigentlich den Kampf gegen Aids weltweit koordinieren. Jetzt zwingt man ihn zum Rücktritt. Die Vorwürfe sind gravierend.

Korrospondenten: Jan Dirk Herbermann (jdh)

Genf - Es ist ein vernichtendes Urteil gegen den Chef von Unaids, Michel Sidibé. Ein Urteil, das sich über mehrere Dutzend Seiten eines Ermittlerberichts zieht. „Das Unaids-Sekretariat ist in einer Krise“, heißt es in dem Report einer unabhängigen Untersuchungskommission. Es sei eine Krise, welche die „unentbehrliche Arbeit von Unaids“ gefährde. Die Organisation koordiniert den weltweiten Kampf gegen die Immunschwächekrankheit Aids. An deren Folgen sterben jährlich noch immer fast eine Million Menschen.

 

Und jetzt das: Vetternwirtschaft, sexuelle Belästigung, Vertuschung und Angst. Für diese Verfehlungen, diese „gebrochene organisatorische Kultur“ bei Unaids geben die Ermittler Michel Sidibé (66) die Schuld. Sie fordern die Absetzung Sidibés, eines langjährigen UN-Funktionärs aus Mali. Nach anfänglichem Widerstand beugte sich Sidibe schließlich dem Druck. Am Donnerstag kündigte er seinen vorzeitigen Rückzug an. Er werde seinen Posten im Juni räumen, erklärte Sidibé in Genf nach Angaben des Sprechers.

Der „Boys Club“ kontrollierte alles

Sidibé, der seit 2009 Unaids führt, hatte es zuvor mit einer Vorwärtsstrategie versucht. Er persönlich hatte die Bildung der Untersuchungskommission vorgeschlagen, um Vorwürfe über sexuelle Übergriffe zu klären. Die Kommission wurde im Juli 2018 eingesetzt. Sidibé selbst wies auf einer Sitzung des Unaids-Leitungsgremiums alle Vorwürfe zurück. Diplomaten aus dem Umfeld von Unaids hatten zuvor UN-Generalsekretär António Guterres zum Handeln aufgefordert. „Die Verfehlungen Sidibés sind schon lange bekannt“, hieß es.  

Die Kommission unter Vorsitz der australischen Juristin Gillian Triggs führte 70 Interviews mit möglichen Opfern sexueller Attacken, Augenzeugen und anderen Mitarbeitern. Rund 30 schriftliche Eingaben wurden ausgewertet. Unaids-Mitarbeiter klagten über eine „spalterische und vergiftete“ Kultur, einen „Personenkult“ um Sidibé und seinen ominösen „boys club“. Sidibé habe sich damit gebrüstet, seine afrikanischen Brüder in bestimmte Positionen befördert zu haben. Zudem suche er die Schuld für Fehlentwicklungen immer bei anderen, niemals bei sich selbst.

Unaids war bereits mit der Affäre um Luiz Loures, den früheren Vizechef der Organisation, in die Schlagzeilen geraten. Der Brasilianer soll eine Mitarbeiterin sexuell belästigt haben. Eine Unaids-Untersuchung entlastete Loures. Daraufhin geriet Sidibé in die Kritik. Sidibé habe seinen Stellvertreter reinwaschen wollen, hieß es. Loures arbeitet nicht mehr für Unaids.