Der Dokumentarfilmer Andres Veiel spricht über einen neuen Trend: den Siegeszug von nachgespielten Dokusoaps im Fernsehen.

Herr Veiel, kennen Sie die RTL-Serie "Verdachtsfälle", die - wie es neuerdings heißt - gescriptet ist, in der also Laienschauspieler nach einem Drehbuch agieren?


Nein, die kenne ich nicht. Ich habe mir aber eine Folge der RTL-Serie "Familien im Brennpunkt" angeguckt. Es ging um einen drastisch zugespitzten Familienkonflikt: Eine Tochter warf ihrer Mutter vor, sie habe sie jahrelang vom Vater ferngehalten.

Die Folgen dieser Serie werden ebenfalls gescripted. Wie hat das auf Sie gewirkt?


Was auffällt, ist das Bestreben der Regie, dem Zuschauer in jeder Szene einen emotionalen Kick zu verschaffen. Es wird gepöbelt, geweint, geschrien und gehauen. Darsteller funktionieren wie Durchlauferhitzer. Das Innerste wird nach außen gekehrt, jede Szene steuert auf einen Ausbruch hin. Es gibt keinen Platz für Zwischentöne. Dieses Format bedeutet die Hinrichtung der Grauzone. Das nenne ich Sozialporno.

Dass es sich um eine fiktionale Geschichte handelt, darauf weisen die Produzenten der Sendung aber im Abspann hin. Reicht dieser Hinweis nicht aus, um dem Zuschauer die Trennung zwischen Fiktion und Realität zu erleichtern?


Nein, Transparenz wird nur behauptet. Es gibt nur einen kleinen Hinweis im Abspann. Der wird aber so schnell eingeblendet, dass der Zuschauer das gar nicht realisiert. Es müsste noch klarer gemacht werden, dass es sich um Schauspieler handelt. Stattdessen wird ihm vorgegaukelt, die Sendungen bildeten die Realität ab.

Ob die Geschichten wahr oder erfunden sind, scheint vielen Zuschauern egal zu sein. RTL erreicht damit nachmittags schon Marktanteile von bis zu über dreißig Prozent.


Trotzdem muss die Trennung transparenter werden, damit sich der Zuschauer davon besser distanzieren kann. Es macht doch einen Unterschied, zu wissen, ob sich Menschen im Schutz einer Rolle entblättern oder ob vor der Kamera am offenen Herzen der Biografie operiert wird.

Jetzt hat auch der NDR in einem Positionspapier über die Möglichkeit nachgedacht, tatsächliche Begebenheiten aus dem wahren Leben im Dokustil nachzuerzählen. Gegen diese Pläne macht der Verband der Dokumentarfilmer, die AG Dok, mobil. Stellt dieses Papier Ihr Selbstverständnis als Dokumentarfilmer infrage?


Wenn der NDR in dieser Richtung durchlässiger werden würde, was vor dem Hintergrund des Quotendrucks und der kostengünstigeren Produktion der Pseudo-Dokusoaps eine gewisse Wahrscheinlichkeit hat, würden damit bei jungen Menschen Sehgewohnheiten geprägt werden. Das hätte auch Auswirkungen auf die Reportage und das dokumentarische Erzählen. Der Druck würde wachsen, konfliktreicher zu erzählen, schneller auf den Punkt zu kommen.