Muslimische Gefangene in Deutschland bekommen nicht den ­gleichen religiösen Beistand wie ihre christlichen Nachbarn. Dabei sind sie ­leichte Beute für salafistische Missionierer.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Frankfurt - Als Mustafa Cimsit das erste Mal den einst meist gefürchteten Terroristen Deutschlands in seiner Zelle in der Haftanstalt Frankfurt-Preungesheim aufsucht, umarmt er ihn zur Begrüßung. „Salam alaikum!“ „U aleikum assalaam!“, erwidert dieser den Friedensgruß, wie er unter Muslimen üblich ist. Emrah Erdogan ist überrascht, in seinem eintönigen Gefängnisalltag eine ganze Stunde mit einem Glaubensbruder verbringen zu dürfen. Der radikale Dschihadist aus Wuppertal, der sich in den Bergen Pakistans einer islamistischen Terrororganisation angeschlossen hat, muss voraussichtlich acht Jahre hinter Gitter verbringen, weil er in Kenia ein Einkaufszentrum in die Luft gejagt haben soll — ausreichend Zeit, um sich Gedanken über das bisherige Leben zu machen.

 

Nach der Begrüßung fragt Cimsit ihn, wie es ihm gehe und ob er irgendwas brauche, vielleicht einen Koran oder einen Gebetsteppich. Dann zückt er sein kleines Flakon und sprüht ihm einen Spritzer Rosenduft auf die Handgelenke, jenen vertrauten Duft, den Muslime von besonderen Gottesdiensten oder Familienfesten kennen. Cimsit hat ihn immer bei sich in der Jackentasche. „Der Duft löst die Zunge und öffnet die Seele, weil er die Häftlinge an ihr Zuhause erinnert“, erklärt er.

In einem anderen Gefängnis hätte sich Erdogans Hass auf die westliche Welt vielleicht verhärtet. Womöglich hätte er andere Insassen radikalisiert, so wie es ihm vor sieben Jahren in der Jugendvollzugsanstalt Siegburg selbst widerfahren ist. Während der dreijährigen Haft verwandelte sich der Kriminelle zum religiösen Eiferer und verließ das Gefängnis in langen Gewändern und mit einem Vollbart. In Frankfurt-Preungesheim hat Erdogan in Imam Cimsit eine religiöse Autorität und einen Koran-Experten gefunden, der seine Gedanken ernst nimmt und bereit ist, mit ihm zu diskutieren. Immer freitags ist der 41-jährige Imam im Haus und verrichtet im mit Teppichen ausgelegten Andachtsraum der Anstalt das zweistündige Freitagsgebet. Anschließend tingelt der kleine Mann mit dem großen Schlüsselbund von Zelle zu Zelle, zu all jenen Häftlingen, die seinen Beistand am dringendsten benötigen.

Gefängnisseelsorger mit Honorarvertrag

Cimsit ist ein muslimischer Gefängnisseelsorger, einer mit Honorarvertrag und Dienstzimmer, wie es eher die Ausnahme in Deutschland ist. Geholt hat ihn vor zwei Jahren Frank Lob, ein engagierter Anstaltsleiter um die sechzig mit einem modernen Verständnis von Sicherheit. „Hohe Mauern und Stacheldraht sind das eine“, sagt er. „Wenn man außerdem Zugang zu den Häftlingen hat, erhöht das die Sicherheit.“ Bei der Suche nach einem geeigneten Kandidaten – denn es sollte ja kein „Hassprediger“ sein, so Lob – verließ er sich auf die Empfehlung des Dachverbandes der türkischen Moscheevereine Frankfurt. Seine einzigen Bedingungen: er sollte die demokratischen Grundwerte achten und Deutsch sprechen. Seitdem erhielt der Anstaltsleiter für seinen Gefängnisimam viel Lob von den Politikern.

Dabei ist selbst in der Vorzeigeanstalt das seelsorgerische Angebot für Muslime dürftig, gemessen daran, dass diese ein Viertel aller Insassen ausmachen. Während für den Rest der Häftlinge ein katholischer Seelsorger und eine evangelische Seelsorgerin täglich von morgens bis abends zur Verfügung stehen, darf Cimsit nur einen Tag pro Woche im Gefängnis arbeiten. Sein Honorar bezieht er aus der Anstaltskasse, die „ausgereizt“ sei, wie Anstaltsleiter Lob betont. Die hauptamtlichen Kollegen hingegen werden wie in den meisten Bundesländern vom Staat finanziert. In manchen Ländern beteiligen sich auch die Kirchen. „Für die muslimischen Gefangenen ist schwer nachvollziehbar, warum der Nachbar mehrmals pro Woche Besuch vom Seelsorger kriegt, sie aber wochenlang auf mich warten müssen“, sagt Cimsit. Derzeit liegen in seinem Postfach mehr als zwanzig Anfragen.

Seelsorge ist ein Bedürfnis, das bei allen Menschen da ist

Die meisten anderen Gefängnisse in Deutschland kooperieren allenfalls mit Ehrenamtlichen oder vermitteln, wenn jemand Kontakt zu einem muslimischen Seelsorger wünscht. Dazu sind sie laut Paragraf 53 des Strafvollzugsgesetzes allerdings auch verpflichtet: „Auf Wunsch ist dem Gefangenen zu helfen, mit einem Seelsorger seiner Religionsgemeinschaft in Verbindung zu treten.“ Der Osnabrücker Islamwissenschaftler Esnaf Begic würde sich wünschen, dass die Anstalten mehr tun, als „lediglich Gesetze zu erfüllen“. Diese müssten doch wissen, wie wichtig es gerade in Gefängnissen ist, Seelsorge aktiv anzubieten. „Ein Straftäter tut sich ohnehin schwer, über seine Tat zu sprechen“, sagt er. „Und Seelsorge ist ein Bedürfnis, das bei allen Menschen da ist, bei Christen wie Muslimen.“

Das hessische Justizministerium betont indes, dass sich der gesetzliche Anspruch der Gefangenen „an die jeweilige Glaubensgemeinschaft richtet, nicht an die Anstalten“. Mit den christlichen Kirchen gebe es nun mal „historisch gewachsene Verwaltungsvereinbarungen, die die Bestellung und die dienstrechtliche Stellung von im Vollzug tätigen Geistlichen regeln“, heißt es in einer Stellungnahme. Bei der Versorgung muslimischer Gefangener gebe es dagegen häufiger „praktische Schwierigkeiten und eine starke Fluktuation der Imame“. Zudem seien die islamischen Organisationen, die eine Glaubensbetreuung bieten, wenig strukturiert und sehr heterogen.

Seit einigen Jahren werden muslimische Seelsorger geschult

In der Regel kooperieren die Haftanstalten mit dem türkischen Dachverband Ditib. Die entsandten Imame werden in der Anstalt ständig von einem Vollzugsbeamten begleitet. Für Cimsit ein undenkbarer Rahmen für seine Arbeit. „Ich würde mich selbst wie ein Gefangener fühlen“, sagt er. Die Imame sind häufig türkische Staatsbeamte, die nicht der deutschen Sprache mächtig sind und mit einem großen Teil der Muslime nicht kommunizieren können. Auch haben die meisten keine Seelsorgeausbildung. Dabei werden bereits seit einigen Jahren muslimische Seelsorger geschult, beispielsweise in der Evangelischen Akademie der Pfalz in Zusammenarbeit mit dem Mannheimer Institut für Integration und interreligiösen Dialog. An qualifiziertem Personal mangele es jedenfalls grundsätzlich nicht, sagt der Islamwissenschaftler Begic.

Wenn Cimsit den Häftling Kamuran Demirtas in Haus C besucht, kocht dieser ihm immer Spaghetti. „Wie sonst kann ich meinen Dank zum Ausdruck bringen“, sagt der 27-jährige Kurde, der zu acht Jahren verurteilt wurde wegen schweren Raubes mit Körperverletzung. Demirtas möchte erzählen, wie die Seelsorge in der Haft sein Leben verändert hat. Im Dienstzimmer von Cimsit nimmt er Platz, ein großer dunkelhaariger Mann mit sauber getrimmtem Bart und verschmitztem Blick. Er trat seine Haftstrafe an, als Cimsit seine Arbeit in Preungesheim aufnahm. Damals sei er depressiv gewesen, habe an Selbstmord gedacht, sagt Demirtas. Seine Eltern, religiöse und stolze Kurden, hatten sich von ihm abgewandt, und seine Frau war kurz davor, ihn mitsamt ihres gemeinsamen Sohnes zu verlassen. Cimsit richtete den Häftling nicht nur auf. Er traf sich auch mit den Eltern, bat diese, dem Sohn zu vergeben. Auch die Ehe konnte er retten. „Ein nicht-muslimischer Seelsorger hätte mir überhaupt nicht weiterhelfen können“, betont Demirtas. Auch hätte er von sich aus keinen Seelsorger angefordert. Er sei wie gelähmt gewesen und habe mit dem Begriff Seelsorge nichts anzufangen gewusst.

Neuankömmlinge sind leichte Beute für die Radikalen

Als mehrfach Verurteilter – auch die JVA Kassel hat er bereits kennengelernt – hat Demirtas beobachten können, was Neuankömmlingen widerfährt, wenn sich keiner um sie kümmert. „Sie sind leichte Beute für die Salafisten“, sagt er und erzählt, wie diese beim Freigang sofort die „Neuen“ erfassen und unter ihre Fittiche nehmen. „In so einer Phase nimmst du jede Hand, die dir gereicht wird“, sagt Demirtas. Ihm sei schleierhaft, warum die Gefängnisse dabei tatenlos zusähen. Beobachter der salafistischen Szene kritisieren die Behörden schon seit Längerem dafür, die Haft als Ort der Radikalisierung zu unterschätzen. „Gerade junge Straftäter sind gefährdet, zum gewaltbereiten Salafismus zu konvertieren, deswegen brauchten wir dringend eine bessere muslimische Gefängnisseelsorge“, sagt beispielsweise der Osnabrücker Islamexperte Michael Kiefer.

In Berlin, wo der Anteil muslimischer Häftlinge bei 30 Prozent liegt, unternahm die Justiz immerhin den Versuch, ihr Seelsorge-Angebot auszudehnen. Man gründete mit etablierten muslimischen Verbänden wie der Islamischen Föderation Berlin und der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion einen Verein, der 30 Seelsorger neun Monate lang ausbilden ließ. Anfang 2013 sollten sie ihre Arbeit aufnehmen. Doch die Justizverwaltung schob die Vertragsunterzeichnung hinaus.

Eine zerklüftete Landschaft muslimischer Vereine

Im August wurde bekannt, dass der Verfassungsschutz „Sicherheitsbedenken“ hat. „Wir haben es leider mit einer zerklüfteten, intransparenten Landschaft aus muslimischen Vereinen zu tun“, stellt die Justizsprecherin Lisa Jani fest. Gäbe es einen verlässlichen Ansprechpartner, könnte man den Muslimen auch bessere Angebote machen. Der Islamwissenschaftler Begic bezweifelt, dass die Bedenken gerechtfertigt sind. Er vermutet „vorgeschobene Gründe“. „Ich würde mir wünschen, dass den muslimischen Vereinen ein größeres Vertrauen entgegengebracht wird“, sagt er.

In Frankfurt-Preungesheim hat sich das Vertrauen in Imam Cimsit bewährt. Neben der Seelsorge gibt er mittlerweile „religionssensible“ Kurse für die Bediensteten. Darin lernen sie beispielsweise, dass Muslimen morgens erlaubt werden sollte zu duschen, weil das religiöse Gründe haben kann. Außerdem hat Cimsit sich darum gekümmert, dass der Lebensmittelhändler vom Gefängnis auch Datteln und islamkonforme Produkte in seinem Sortiment führt. Was den Imam aber am meisten freut: Nach intensiven Gesprächen sei es ihm gelungen, Emrah Erdogan davon zu überzeugen, dass der Prophet Mohammed seine Art, gegen das Unrecht in der Welt zu kämpfen, nicht gutheißen würde. „Der Prophet bediente sich immer Mittel, die staatlich legitimiert waren“, habe Cimsit ihm erklärt. „Abweichler und Einzelgänger kritisierte der Prophet.“ Cimsit sagt, er habe Erdogan die entsprechenden Passagen in der Sunna vorgelesen. Der einstige Terrorist habe sich einsichtig gezeigt.