Das Mittelmeer gilt als der größte Friedhof Europas. Jedes Jahr sterben tausende Menschen, weil sie sich in Schlauchbooten oder klapprigen Kähnen auf den Weg in Richtung Italien machen. Ihr Ziel ist ein besseres Leben in Europa. Zivile Organisationen wie SOS Méditerranée patrouillieren mit der Ocean Viking in den Gewässern von Tunesien und Libyen, um schiffbrüchige Flüchtlinge an Land zu bringen. Doch die Helfer kämpfen gegen viele Widerstände. Unser Korrespondent Knut Krohn befindet sich an Bord der Ocean Viking und dokumentiert die Arbeit der Seenotretter.
Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ist eine der größten Gegnerinnen der Seenotrettung. Auf der Online-Plattform X haben sich Meloni und die Hilfsorganisation Sea-Watch nun einen Schlagabtausch geliefert. Nach einem Besuch der Regierungschefin diesen Tagen in Libyen für eine Konferenz zu irregulärer Migration setzte Sea-Watch einen Post ab und schrieb dort unter anderem: „Wir wünschen ihnen von Herzen alles erdenklich Schlechte.“ Sie arbeite an einer „dystopischen Migrationspolitik“.
Giorgia Meloni reagierte prompt und warf Sea-Watch vor, nichts zu der Rolle von Schleusern zu sagen, die nach ihren Worten für den Tod von Tausenden Menschen verantwortlich sind. Sie sei nach Libyen gereist, um die illegale Migration über das Mittelmeer nach Europa zu stoppen.
Zwischen zivilen Seenotrettern und Rom gibt es seit vielen Jahren Streit. Die Organisationen sind Melonis rechter Regierung seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge. Sie erließ ein Gesetz, das nach Einschätzung von Kritikern die Arbeit der Hilfsorganisationen erschwert. Sie sind demnach verpflichtet, nach einer Rettungsaktion im Meer unverzüglich einen zugewiesenen Hafen anzusteuern, ohne ihren Einsatz fortzusetzen und weitere Migranten an Bord zu holen. Bei Verstößen drohen hohe Bußgelder oder sogar die Festsetzung des Rettungsschiffs.
Die Einfahrt verzögert sich
Das Rettungsschiff Ocean Viking ist am Montag im Hafen von Siracusa angekommen. Allerdings verzögerte sich die Einfahrt um knapp einen Tag, da der Hafen durch ein riesiges Kreuzfahrtschiff versperrt war. Die Mannschaft ist solche Verzögerungen allerdings gewöhnt, da die italienischen Behörden immer wieder versuchen, das Anlegen zu verzögern oder sogar zu verhindern.
Das Beladen beginnt
Kurz nachdem die Ocean Viking endlich am Dienstag in den Hafen einfahren kann, beginnen die Helfer mit dem Beladen des Schiffes. In sengender Sonne werden vor allem Nahrungsmittel in Containern auf dem Deck verstaut, die beim nächsten Rettungseinsatz für die erste Versorgung der geborgenen Überlebenden benötigt werden. Dazu zählen etwa Reis, Proteinriegel und auch Nüsse – aber auch ein kleiner Beutel mit einem Handtuch, Zahnpasta und Zahnbürste sowie Unterwäsche. Die Wettervorhersage macht den Plänen von SOS Mediterranée jedoch einen Strich durch die Rechnung. Auf offener See zwischen Libyen und Italien herrschen zu starke Winde. Bei Wellen, die über zwei Meter hoch sind, ist ein Rettungseinsatz nicht möglich. Also heißt es, abwarten.
Appelle an Politik und Öffentlichkeit
François Thomas, Präsident von SOS Mediterranée Frankreich, appelliert immer wieder an die Politik und die Öffentlichkeit, die Arbeit der Rettungsorganisationen zu entkriminalisieren. Er betont, dass bei den Einsätzen im Vordergrund steht, das Leben von Menschen zu retten und die Überlebenden dann zu schützen und zu pflegen. Das Problem der NGOs ist allerdings, dass ihre Arbeitsbedingungen immer weiter verschärft werden, seit die postfaschistische Regierung von Premierministerin Giorgia Meloni in Italien das Sagen hat. So werden den Schiffen etwa Häfen im Norden des Landes zugewiesen, sodass sie eine sehr weiter Strecke in die Einsatzgebiete zurücklegen müssen. Das kostet die Organisationen nicht nur Zeit, sondern auch sehr viel Geld.
Das Meer hat sich beruhigt
Am Donnerstagmorgen ist es dann soweit. Das Mittelmeer hat sich soweit beruhigt, dass die Ocean Viking zur Rettungsmission auslaufen kann. Ein Lotse steuert das Schiff aufs offene Meer, von dort nimmt die Crew Kurs in Richtung Libyen.
Auf dem Weg ins Einsatzgebiet wird die Zeit genutzt, um die Erste-Hilfe-Maßnahmen zu üben. In diesem Fall die Reanimation eines Säuglings. Wichtig sei, es mit den Maßnahmen noch im Schnellboot zu beginnen, das die Geretteten zur Ocean Viking bringt, sagen die Seenotretter. Dort werden die Geretteten dann zur weiteren medizinischen Betreuung in eine kleine Krankenstation gebracht.
Gute Vorbereitung ist alles
Auch die Schnellboote werden noch einmal einem Test unterzogen. Im Notfall ist jede Sekunde für die Menschen in Seenot überlebenswichtig. Beim Aussetzen der Boote von der Ocean Viking muss jeder Handgriff sitzen und auch die Rollen müssen genau verteilt werden.
Vorbereitet sein ist fast alles bei der Suche nach schiffbrüchigen Migranten im Mittelmeer. Aus diesem Grund versammelt sich die Crew der Ocean Viking jeden Morgen zu einer Besprechung. Der Kapitän bringt die Männer und Frauen auf den neusten Stand der Dinge. Sind Schiffe in der Nähe? Gab es in den letzten Stunden Rettungen in der Region? Fliegen Aufklärungsdrohnen am Himmel? Wird von Migranten berichtet, die in Libyen oder Tunesien abgelegt haben? Und: Wie wird das Wetter? Ist die See ruhig, machen sich mehr Menschen auf den Weg über das Mittelmeer in Richtung Europa. Die Besprechung läuft nach einem festen Ritual, Fragen werden kaum gestellt, jeder weiß, was er zu tun hat. An diesem Tag heißt es, die Augen besonders offenzuhalten, denn das Wetter ist gut und die Crew rechnet damit, schnell auf Flüchtlingsboote zu stoßen.
50 Menschen in einem Schlauchboot
Die Ahnung der Männer und Frauen auf der Ocean Viking soll sich schnell bewahrheiten. Am späten Vormittag nimmt der Kapitän einen Notruf auf. 50 Menschen sollen sich vor der libyschen Küste in einem seeuntüchtigen Schlauchboot befinden. Die Anspannung steigt von einer Sekunde auf die andere schlagartig an. Die Ocean Viking geht mit voller Fahrt auf den neu berechneten Kurs. Allerdings hat auch die libysche Küstenwache den Notruf empfangen. Mit ihren Schnellbooten sind sie wesentlich rascher bei dem havarierten Schlauchboot.
Wahrscheinlich ist, dass die Migranten von den Grenzschützern aufgenommen und zurück an Land gebracht wurden. An diesem Punkt wird deutlich, dass die Suche nach Flüchtlingen in Seenot auf dem Mittelmeer auch ein Katz-und-Maus-Spiel ist.
Immer wieder Folterspuren
Aus den Erzählungen von Überlebenden weiß die Crew der Ocean Viking sehr genau, was die Migranten in Libyen erwartet. Immer wieder müssen die Ärztinnen Folterspuren behandeln, Frauen berichten von sexuellen Misshandlungen. Ständig gibt es auch Berichte über Menschenhändler, die in Libyen Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa kidnappen, sie foltern, sie kontaktieren Angehörige und erpressen diese dann um Lösegeld. Das Geschäft brummt – doch scheinbar kann oder will es niemand unterbinden.
Das nordafrikanische Land Libyen ist seit dem Sturz von Machthaber Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 tief gespalten. Es gibt zwei verfeindete große Lager und viele kleine konkurrierende Untergruppen. Offiziell regiert die Partei der nationalen Einheit (GNU) unter Ministerpräsident Abdul Hamid Dbeiba. Doch der Warlord und ehemalige Militäroffizier Chalifa Haftar meldet ebenfalls Ansprüche an. Dieses Chaos hat Libyen in einen nicht enden wollenden Bürgerkrieg gestürzt. Humanitär ist das Land am Ende, Millionen Menschen leiden Hunger. In dieser Situation sind die Migranten für die Milizen eine willkommene Einkommensquelle.
Tief gespaltenes Land
Während das Rettungsschiff Ocean Viking auf dem Mittelmeer seine Mission verfolgt, richtet die Mutterorganisation SOS Méditerranée einen Appell an die Politik. Seit 2014 seien mehr als 30 000 Menschen im Mittelmeer verschwunden, dem müsse ein Ende gesetzt werden, heißt es darin. Gefordert wird eine effektive Koordinierung von Rettungsaktionen, die zudem in ausreichender Zahl durchgeführt werden müssten.
Auch während der Fahrt auf dem Mittelmeer wird jeden Tag geübt. In diesem Fall wird die Rettung von Überlebenden mit den drei Schnellbooten durchgespielt, die die Ocean Viking mit an Bord hat. Sie werden zu Wasser gelassen, um sich einem havarierten Boot mit Migranten zu nähern und diese dann zum Mutterschiff zu transportieren. Das ist ein eingespieltes Manöver, das auch nachts und bei rauer See reibungslos funktionieren muss. Dabei ist es etwa wichtig, ob es sich um ein Schlauchboot, eines aus Holz oder aus Metall handelt, denn jedes hat ein anderes Schwimmverhalten.
Hilferuf eines Flüchtlingsbootes
Am Abend des sechsten Tages kommt der Hilferuf eines Flüchtlingsbootes auf der Brücke der Ocean Viking an. Allerdings befindet es sich rund 150 Kilometer entfernt, in der Nähe von Malta. Die Crew zögert nicht lange und nimmt Kurs. Nach rund acht Stunden Fahrt, trifft das Rettungsschiff in den frühen Morgenstunden an der angepeilten Stelle an und beginnt die Suche. Doch nach Stunden können nur zwei leere Boote gefunden werden. Schließlich dreht die Ocean Viking bei und fährt wieder in Richtung libysche Küste in Richtung des ursprünglichen Einsatzgebietes. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wird sehr deutlich: die Rettung von schiffbrüchigen Flüchtlingen ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Frustrierend für die Seenotretter ist, dass sie nicht auf die vielen technischen Hilfsmittel wie etwas Drohnen der Küstenwache oder der Grenzschutzagentur Frontex zurückgreifen können. Die Crew der Ocean Viking ist überzeugt, das würde den Tod von sehr vielen Menschen verhindern.
Schnellboote rücken aus
In den frühen Morgenstunden des neunten Tages empfängt die Ocean Viking eine Nachricht, dass sich in ihrer Nähe zwei Boote mit sehr vielen Menschen an Bord in Seenotbefinden. Das Schiff nimmt Kurs und dann werden die Schnellboote zu Wasser gelassen. Das erste Flüchtlingsboot mit fast 100 Menschen ist rasch erreicht. Die Seenotretter erklären den Leuten, dass sie nicht von der libyschen Küstenwache sind, sondern helfen wollen. Dann werden zuerst Schwimmwesten verteilt und ein Flüchtling nach dem anderen wird auf die Schnellboote geholt.
Als das Boot leer ist, wird noch einmal kontrolliert, ob sich niemand mehr an Bord befindet. Dann werden die letzten Flüchtlinge an Bord der Ocean Viking gebracht. Dort werden sie zuerst registriert und medizinisch versorgt.
Heißer Tee und Energieriegel
Zur Versorgung gehört auch, dass die Kleidung der Flüchtlinge gründlich gewaschen wird. Die meisten waren über Monaten in libyschen Lagern auf engstem Raum unter zum Teil menschenunwürdigen Zuständen zusammengepfercht. Auch die Schuhe werden gewaschen – und trocknen danach auf dem Oberdeck in der Sonne.
Am Morgen nach der Rettung gibt es für die aufgenommenen Flüchtlinge an Bord Frühstück. Das heißt: heißer Tee, Energieriegel und Nüsse. Alle haben die Nacht über erschöpft geschlafen. Viele sind in den ersten Stunden in sich gekehrt, andere erzählen von den letzten Monaten ihrer Odyssee. Den meisten ist noch der Horror vom Aufenthalt in den Lagern in Libyen ins Gesicht geschrieben.