Die aus Stuttgart stammende Band Karies besingt auf ihrem Album „Seid umschlungen, Millionen“ das Leben in den grauen Vorstädten der Republik. An diesem Punkt war man schon vor 30 Jahren. Aber Wut ist allemal besser als das, was der aktuelle Mainstream anbietet.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Auf vielen Filmen und Bildern aus den Achtzigerjahren liegt so eine graue Patina. Klar, Farben auf Fotos bleichen über die Jahrzehnte aus wie Erinnerungen. Aber es bleibt der Eindruck einer bleifarbenen Schwere, einer Tristesse, die im politischen Kontext der Zeit erklärbar und von vielen Künstlern dargestellt wurde. Zum Beispiel in diesem Video zum Smiths-Song „Every Day is like Sunday“. Oder in diesem Video zum Song „Ask“.

 

Nun hat die zum Teil aus Stuttgart stammende Band Karies mit den Smiths nicht allzu viel gemein, sieht man von ihrem Label This Charming Man (so heißt ein weiterer Achtziger-grauer Smiths-Song) sowie einem irgendwie The-Smiths-mäßig gestalteten Plakat für ihr Auftritt beim Klinke-Festival im Kulturzentrum Merlin einmal ab. Damals wurde bereits das Karies Album gefeiert, mit dem die Gruppe derzeit auf Deutschland-Tour ist.

Karies sind dabei der neueste per Labelveröffentlichung in den Blick der aufmerksamen Popwelt gespülte Act der anderswo bereits als „inzestuös“ gebrandmarkten Szene aus Stuttgart und Esslingen. Die hat mit dem Sampler „Von Heimat kann man hier nicht sprechen“ im vergangenen Herbst eine erste Werkschau präsentiert. Inzwischen hat von dieser Szene zumindest der Teil um die allseits gehypte Band Die Nerven der Stuttgarter Popmusik zu einer gewissen Aufmerksamkeit verholfen.

Eine graue Welt aus lauter Vorstädten

Karies machen genau da weiter, wo Die Nerven und die seelenverwandten Human Abfall aufgehört haben: Sie schildern eine graue Welt aus lauter Vorstädten, wolkenverhangen und ohne Perspektiven auf Besserung. Karies drücken mit ihrer Musik eine Wut auf die von ihnen beschriebene, kaputte Welt aus – aber es ist eine zynische Wut. Eher eine Wut darüber, dass sich eh nichts ändern wird. Weder in politischen noch in persönlichen Dingen. Nachzuhören ist das beispielhaft im Song „Abwärts“.

An diesem Punkt war man in Deutschland und anderswo ja schon einmal, eben in den Achtzigern. Und die popkulturelle Antwort darauf waren erstens ein Abtauchen vieler wütender Menschen in verschiedenste Untergrund-Kulturen und zweitens im Mainstream purer Hedonismus, nach dem Motto: so viel Spaß wie möglich rausholen ist immer noch besser als einfach nur sauer zu sein.

Karies sehen das offenbar anders. Ihre Musik ist eine schiere Ansammlung von lauter Schlägen ins Gesicht: getrieben von Schlagzeuger Kevin Kuhn, der die Becken hier noch NDW-mäßiger peitschen darf als anderswo. Sänger Benjamin Schröter skandiert empörte Anklagen in Richtung Zuhörer, Bass und Gitarre schnorren eingeschnappt vor sich hin. Das ist alles toll produziert vom Die-Nerven-Frontmann Max Rieger, und die Songs belassen es nicht bei Rock-Riffs mit Schreigesang, sondern dehnen sich, enden einfach nicht, werden zu kleinen instrumentalen Widerhaken im Ohr. Weil von Ohrwürmern zu sprechen sich bei dieser Musik verbietet.

Als Indie noch nicht Indie hieß

Man hört da all die Helden deutscher Indie-Musik heraus, die ihre Zeit hatten, als man diese Musik noch nicht Indie nannte. Einstürzende Neubauten, ein bisschen DAF und, nicht vergessen, Fehlfarben. Die kommen alle aus NRW oder dem Berlin der rheinischen Republik, also jener BRD, die man derzeit nicht muffig nennen will, die aber genau das war. Damals, in den Achtzigern.

Das Rheinland und Stuttgart haben als örtlich unterschiedliche Ausprägungen der immer gleichen deutschen Provinz also ziemlich viel gemein. Wenn man das große Bild zeichnen will, dann wären Bands wie Karies, Die Nerven oder die ebenfalls beim Label This Charming Man beheimatete Gruppe Messer aus Münster sozusagen der popintellektuelle Gegenpol zur Hauptstadtszene der Berliner Republik – und, erst recht, zu auf Radiotauglichkeit produzierten Kleinstadtacts der letzten Jahre wie Juli (Gießen), Luxuslärm (Iserlohn) oder Tokio Hotel (Magdeburg).

Vor allem, und das unterstreicht auch das Album von Karies, zeichnen sie ein Bild von der Welt, das man ihnen so abkauft. Zwar sagen auch Karies nicht, wie eine Welt aussehen sollte, die ihnen gefällt. Aber Wut auf eine kaputte Welt ist allemal besser als den „perfekten Tag“ zu besingen oder den Kids „Never Cro Up“ zu raten.

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