Die letzte Kinderarztpraxis in Renningen hat vor einem Jahr geschlossen. Vorsorgeuntersuchungen oder Impftermine stellen für viele Eltern seitdem eine Herausforderung dar. Eine Mutter hat nun eine drastische Maßnahme ergriffen.
Fast ein Jahr ist es her, dass der Kinderarzt von Renningen in den Ruhestand gegangen ist. Nun steht fest: Die Bemühungen, am bisherigen Standort eine Nachfolgelösung zu realisieren, sind „trotz erheblicher Bemühungen“ vieler Beteiligter leider gescheitert, berichtet die Renninger Stadtverwaltung. „Es war leider nicht möglich, die Anerkennungsprozesse von im Ausland erworbenen Abschlüssen zu beschleunigen.“ Der Fokus liegt nun auf der Neuansiedelung eines Kinderarztes. „Eine kurz- oder mittelfristige Lösung ist derzeit nicht in Sicht.“
Für viele Renninger Eltern eine Hiobsbotschaft. Denn noch immer gibt es Mütter und Väter, die bis heute keinen neuen Kinderarzt gefunden haben. Notfälle werden zwar im Krankenhaus behandelt. Doch Termine für Vorsorgeuntersuchungen, Rezepte oder Krankschreibungen? Fast ein Ding der Unmöglichkeit. Diese Erfahrung hat Rebecca M., Mutter aus Renningen, gemacht – und ist mit einer Selbstanzeige beim Jugendamt schließlich bis zum Äußersten gegangen. Gebracht hat es nichts. Sie steht weiterhin allein auf weiter Flur.
Selbstanzeige wegen Verletzung der Fürsorgepflicht
Die 36-Jährige ist berufstätig und lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Renningen-Malmsheim. Sie hat sich wie viele Eltern die Finger wund telefoniert und ganze Vormittage in Warteschleifen verbracht, um einen Nachfolgearzt für ihren heute viereinhalbjährigen Sohn und die achtjährige Tochter zu finden. Vergeblich. Für alltägliche Anliegen fühlt sich nach ihrer Erfahrung seither niemand zuständig. Eine Vorsorgeuntersuchung für ihren Sohn musste sie schon gänzlich ausfallen lassen, weil sie nirgends einen Termin bekam.
„Am Ende wusste ich mir nicht mehr anders zu helfen: Ich habe beim Jugendamt in Böblingen eine Selbstanzeige gestellt, dass ich der Fürsorgepflicht für meine Kinder nicht mehr nachkommen kann“, erzählt Rebecca M. Die Mitarbeiter wirkten sichtlich irritiert, nahmen die Anzeige auf ihr Drängen aber auf. Nach wenigen Tagen erhielt sie einen Rückruf. „Aus ihrer Sicht lag keine Kindeswohlgefährdung vor.“ Das Amt wertete das Bemühen der Mutter als ausreichend, wie man ihr mitteilte. Es ist der bisherige Höhepunkt, aber längst nicht das Ende einer langen Odyssee auf der Suche nach einer ärztlichen Versorgung für ihre Kinder.
Tagelang in Warteschleifen gehangen
Dem Landratsamt Böblingen zufolge handelt es sich bei dieser Selbstanzeige wegen eines fehlenden Kinderarztes um ein Unikum. Dort kann man jedoch auch nicht mehr tun, als auf den Terminservice der Kassenärztlichen Vereinigung zu verweisen. „Wir sehen den Kinderarztmangel sehr kritisch“, sagt Rebecca Kottmann, Sprecherin des Landratsamts. „Über Gremien wie die Kommunale Gesundheitskonferenz versuchen wir, die Akteure an einen Tisch zu bringen. Aber auf die Versorgungssituation selbst haben wir leider keinen Einfluss.“
Wie schlimm diese ist, erfuhr Rebecca M. am eigenen Leib: Bereits vor der Schließung der Renninger Praxis hing sie „tagelang in Warteschleifen von Kinderarztpraxen“, nur um Sätze zu hören wie: „Das hat doch noch Zeit.“ Nach der Schließung das gleiche Spiel: nur Absagen. „Ich kenne Eltern, die sind persönlich mit einer Schachtel Pralinen in den Praxen vorbeigefahren, um einen Platz zu bekommen.“
Sie selbst versucht nun seit einem Jahr immer wieder, irgendwo unterzukommen, doch die Ergebnisse sind zermürbend. Eine einfache Reiseschutzimpfung wird dabei zum Hürdenlauf. Selbst, als eine befreundete Fachärztin anbietet, die Impfung zu übernehmen, liegen viele Steine im Weg – zum Beispiel bei der Frage der Kostenübernahme. „Im Sommer ging ein Magen-Darm-Virus rum. Auch da hat uns kein Arzt aufgenommen. Es hieß: Entweder ist das Kind so krank, dass wir direkt ins Krankenhaus müssen, oder es braucht gar keinen Arzt.“ Nur: Wer schreibt das Kind krank? „Man riet mir, mich an meinen Hausarzt zu wenden“, erzählt die 36-Jährige. „Manche machen das aus Kulanz. Aber Allgemeinmediziner haben keine entsprechende Zulassung. Mein Hausarzt untersucht meine Kinder zum Beispiel nicht.“ Ein Kinderarzt bot immerhin an, eine Krankschreibung auszustellen – allerdings, ohne sich das Kind überhaupt anzuschauen.
Besonders enttäuscht ist sie von der Kassenärztlichen Vereinigung. Diese betreibt unter anderem die Nummer des ärztlichen Notdienstes, die 116 117. Darüber lassen sich auch Termine bei Kinderärzten vereinbaren, wenn man selbst keinen bekommt. Doch die Handy-App für Terminbuchungen bei Kinderärzten ist für Baden-Württemberg nicht aktiviert. „Wir machen immer wieder die Feststellung, dass es gut ist, die Leute am Telefon zu haben“, erklärt ein Sprecher der KVBW. „Um genau nachfragen zu können, warum sie zum Beispiel einen Kinderarzt brauchen.“ Doch für einen Anruf muss man eine Menge Zeit mitbringen. „Ich hing einen kompletten Vormittag in der Warteschleife, alle zehn bis 15 Minuten musste ich neu anrufen, weil man nach längerer Zeit aus der Leitung geschmissen wird“, beklagt M. Erst gegen 12.30 Uhr kam sie durch – und musste dann auch noch den einzigen freien Termin ablehnen, weil sie ausgerechnet an diesem Tag auf Geschäftsreise musste.
Eindringliche Warnung vor einer Zwei-Klassen-Gesellschaft
Wie es weitergeht? Für die nächste Reiseschutzimpfung konnte sie mittlerweile einen Termin ergattern – in Rheinland-Pfalz. Dort wohnen Verwandte, die sie ab und zu besucht. Zur U-Untersuchung ihrer Tochter könnte sie nach Frankfurt fahren. „Da passiert etwas ganz Gefährliches“, warnt Rebecca M. „Bei der Terminvergabe über die KVBW werden 150 Kilometer Anfahrt als zumutbar angesehen. Aber es gibt Familien, die können sich das aus finanziellen und zeitlichen Gründen nicht leisten. Da fallen wichtige Untersuchungen reihenweise aus.“ Sie wisse auch von einem Fall, in dem einem Kind eine begleitende Therapie von der Schule empfohlen wurde. „Wenn sich aber kein Arzt findet, der das verschreibt, bleibt den Eltern nur, es selbst zu bezahlen.“
Eine ausreichende kinderärztliche Versorgung sei daher nicht nur eine medizinische Frage, sondern eine soziale, so Rebecca M. „Wir erschaffen hier eine Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der die Gesundheit der Kinder vom Einkommen der Eltern abhängt. Das darf nicht passieren.“