Doras Eltern sind besorgt: ihre achtzehnjährige behinderte Tochter will ein eigenes Sexualleben. Sie gerät schnell an einen unguten Typen – was dieser Film aber ganz und gar nicht als Krimi mit schwachem Opfer erzählt.

Stuttgart - Wenn Dora ihre Medikamente genommen hat, sieht sie die Welt wie durch eine Milchglasscheibe und wird zu einem leicht lenkbaren Kind. Ihre Eltern wollen es so, denn ohne Psychopillen wäre der Alltag mit ihrer Tochter schwierig und kräftezehrend. Doch an Doras (Victoria Schulz) achtzehntem Geburtstag entscheidet sich Mutter Kristin (Jenny Schily), das Zeug in die Tonne zu werfen und ihr einen unverstellten Blick auf die Dinge zu gewähren. Das geistig behinderte Mädchen freut sich aber bald nicht nur über neue Sinneseindrücke, sondern auch über ihre eigene Sexualität.

 

„Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ kam als Theaterstück von Lukas Bärfuss 2003 zur Uraufführung. Damals wie heute rüttelt die Geschichte einer geistig Behinderten, die ihr Recht auf selbstbestimmten Sex einfordert, an einem Tabu. Stina Werenfels hat den sich moralischer Deutungshoheit entziehenden, zur Satire lockenden Stoff fürs Kino adaptiert und setzt die sachlichen, im Urtext sehr reduzierten Szenen in experimentelle, weniger distanzierte Bilder um.

Keine Aufsicht durch Erzieher

Dabei ist es nicht leicht, das Drama im Film neu zu erfinden, ohne ihm den spröden Witz der Bärfuss-Vorlage auszutreiben. Doch Werenfels vermeidet es weitestgehend, Ecken und Kanten glatt zu hobeln, und versucht auch nicht, eine bequeme Wohlfühlkomödie zu stricken. Würde die Protagonistin in der Sicherheit einer Behinderten-WG unter Aufsicht von Erziehern und Therapeuten geschützten Sex mit einem Partner auf Augenhöhe erleben, wäre so ein Ansatz naheliegend.

Doch hier ist die Ausgangslage etwas komplizierter: Dora, die unverkrampft und naiv auf Menschen zugeht, wird auf einem öffentlichen Klo von Peter (Lars Eidinger), einem undurchsichtigen Typen auf Reisen, vergewaltigt. Das Mädchen selbst empfindet das aber nicht als Übergriff und ist von Peters Selbstgewissheit fasziniert.

Lust am Gefährlichen

Stina Werenfels hält sich eng an die Vorgaben, die Bärfuss hinsichtlich seiner Figuren macht, und stempelt Dora nicht zum hilflosen Opfer eines Lüstlings ab, der sich die vermeintliche Ahnungslosigkeit der Behinderten zunutze macht. Und wie Bärfuss fragt auch Werenfels nicht danach, ob das, was Peter tut, amoralisch ist, sondern konzentriert sich vielmehr auf die Bedürfnisse der Protagonistin.

Wer Doras Lust an der fast nihilistischen, nicht ungefährlichen Beziehung zu Peter verstehen will, muss – wie Doras Eltern – die eigenen Moralvorstellungen radikal über Bord werfen. Darin liegt die Brisanz, aber auch das Potenzial des Films, der uns unsere Vorurteile und Ängste so harsch wie humorvoll vor Augen führt. Von Dora kann man etwas lernen.

Dora oder Die sexuellen Neurosen unserer Eltern. Schweiz 2015. Regie: Stina Werenfels. Mit Victoria Schulz, Lars Eidinger, Jenny Schily, Urs Jucker. 92 Minuten. Ab 16 Jahren.