Die Radwerkstatt im alten Werkraum der Bietigheimer Realschule im Aurain ist eine Fundgrube für Menschen mit wenig finanziellen Mitteln – und auch für Sammler.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Kürzlich hat ein Mann eine alte Sattelstütze der italienischen Kultmarke Campagnolo mitgenommen. Nur ein paar Euro hat er bezahlt. Für gewöhnlich besuchen die Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt im alten Werkraum der Bietigheimer Realschule im Aurain vor allem Menschen mit kleinem Geldbeutel, Leute, die schlicht ein preiswertes Rad suchten, erzählt Erwin Weiblen. Der passionierte Biker arbeitet hauptberuflich als Anästhesist in der Klinik in Markgröningen – und jeden Freitag von 17 bis mindestens 18 Uhr ehrenamtlich in der kleinen Werkstatt in der Wilhelmstraße in Bietigheim. An diesem Freitagnachmittag Mitte März sind eine Handvoll weitere Helfer da, die meisten sind im Ruhestand, sie haben Zeit, Fachwissen und Handwerksgeschick – und sie bringen alte gespendete Drahtesel wieder auf Vordermann.

 

Vom Fahrradhändler zum „Bub für alles“

Der kleine Raum ist fast komplett voll gestellt mit Rädern: Damen- und Herrenräder, Jugend- und Kinderräder, die Bikes sind von den Männer – fast alle sind sie Mitglied beim Allgemeinen Deutsche Fahrrad Club (ADFC) – in der vergangen Woche wieder fahrbereit gemacht worden. Die Räder stehen in Reihe und Glied, dicht an dicht. Andernfalls wäre auch kein Platz mehr zum Schrauben und zum Tüfteln.

Kurz nach 17 Uhr schaut die erste Kundin vorbei. Die Frau, geschätzt Mitte 30, spricht kaum ein Wort Deutsch. Sie hat ein winzig kleines, knallgelbes Kinderrad dabei und zeigt auf den platten Hinterreifen. Beherzt greift Thomas Schmidt zu und pumpt den Reifen auf. Bald ist klar: Das war’s auch schon – offenbar kein Loch im Schlauch. Die Dame bedankt sich mit einer kleinen Verbeugung und einem strahlenden Lachen. Dieser Job war blitzschnell erledigt. Etwas länger dauert die Arbeit an einem beinahe 30 Jahre alten Mountainbike der Marke Scott. Der Maschinenbau-Ingenieur Schmidt begutachtet zusammen mit Ulrich Stroh und Friedrich Eberhardt die defekte Schaltung an dem Rad. Eberhard ist Fachmann, das sieht selbst ein Laie sofort. Er weiß offenkundig immer was zu tun ist. Kein Wunder, der Mann war früher viele Jahre lang Fahrradhändler in Bietigheim. Er hat seinen Laden Pedalkraft verkauft, hilft dort gelegentlich ein bisschen mit und ist immer wieder als „Bub für alles“ in der Selbsthilfe-Radwerkstatt am Start.

„Wiederholungstäter“ werden um eine Spende gebeten

Doch mit der Selbsthilfe, das sei so eine Sache, so der informelle Chef der Werkstatt, Erwin Weiblen. Die meisten Kunden kämen mit dem Wunsch, dass ihr Rad möglichst schnell und unbürokratisch von den ADFC-Herren repariert werde. Selbst Hand anlegen wolle kaum einer. Leider. „Wiederholungstäter“, also Männer und Frauen, die regelmäßig mit ihrem Rad vorbei schauen, werden daher mitunter gebeten, ein paar Euro zu spenden. Der nächste Kunde, ein Mann mit grauen Haaren, ist offenbar so ein Kandidat. Diesmal hat er ein Damenrad dabei. Als das Bike wieder läuft, lässt er einen Zehn-Euro-Schein da und geht heim - Pardon, er fährt heim.

Draußen auf dem Hof ist unterdessen ein Ehepaar mit einem Auto vorgefahren. Die beiden laden zwei Räder, etwa 20 Jahre alt, aus dem Kofferraum und erzählen: diese komplett fahrtüchtigen Bikes gehörten ihren Eltern, und dass die Senioren die Bikes nicht mehr benötigten. Die Werkstatt sei eine ganz tolle Sache, so die Frau. Sie spende die Räder gerne und hoffe, dass sich bald neue Eigentümer finden.

Mancher ist pingeliger, mancher großzügiger

Alle Räder, die in der Werkstatt zum Kauf angeboten werden, kosten zwischen 20 und maximal 150 Euro. Verkauft werden diese an Bedürftige, sagt Weiblen. Wobei niemand akribisch nachprüfe, ob die Interessenten tatsächlich nur wenig Geld haben. Alles sei letztlich Ermessenssache der Männer, die in der Werkstatt ehrenamtlich arbeiten. Der eine sei pingeliger, der andere großzügiger. Man müsse allerdings aufpassen, dass die Räder nicht an Wiederverkäufer gehen, so Weiblen. Mitunter würden Bikes aber auch mal verschenkt. Weil das Lager brechend voll ist, würden vor Osten vermutlich wieder ein paar der Räder für umme abgegeben: „Wir brauchen Platz.“

Die Bietigheimer Radwerkstatt gibt es seit 2015. Damals, erklärt Weiblen, hatten die Initiatoren in erster Linien Flüchtlinge als Abnehmer für die Bikes im Kopf. Männer, Frauen und Kinder, die mit kaum mehr als ihren Kleidern am Leib nach Deutschland kamen. Weiblen war damals schon stellvertretender Vorsitzender des ADFC in Bietigheim. Mit dem Arbeitsreis Asyl sei dann das Projekt gestartet worden. Zunächst wurden die von Privatpersonen gespendeten und dann hergerichteten Räder verschenkt, später wurden die Bikes gegen Mithilfe in der Werkstatt an Flüchtlinge ausgeliehen. Weil sich die Werkstatt aber finanziell tragen soll, wurden schon immer auch Räder verkauft. Die Grundregel für den Mindestpreis: ein Rad sollte in jedem Fall mehr kosten als ein neuer Reifen. Ob sich jemand finde, der die 150  Euro für das derzeit teuerste Bike im Fuhrpark auf den Tisch legt, das bezweifle er, sagt Erwin Weiblen. Die Preise seien ohnehin Verhandlungssache.

Fast jeder Defekt kann repariert werden

Kurz bevor die Werkstatt an diesem Freitag geschlossen wird, kommt eine Familie vorbei und gibt ein neuwertiges Jugendrad ab. Nur der Hinterreifen habe ein Loch, ansonsten sei das Bike in einem guten Zustand, so die Auskunft der Spender. Sofort macht sich der gelernte Mechaniker Dieter Fink ans Werk, er baut das Hinterrad aus dem Rahmen und will den Reifen flicken. Dass dieses neuwertige Fahrrad abgegeben wird, kommentiert der Mann mit einem verschmitzten Lächeln und dem Satz: „Die haben wohl eine reiche Oma.“ Eine Oma, die dem vorherigen Besitzer des Rads vermutlich längst schon ein nagelneues Bike gekauft hat.

In der kleinen Werkstatt sei es möglich, fast jeden Defekt zu reparieren, sagt Erwin Weiblen – außer größere Miseren, wie etwa einen gebrochenen Rahmen. An den Wänden stapeln sich Kisten, in denen gebrauchte Ersatzteile darauf warten wiederverwertet zu werden: Lenker und Schaltwerke, Griffe und Bremsen sowie Schutzbleche und Reifen. Neu verbaut würden zumeist nur Schläuche und Ketten. Erwin Weiblen sagt, die Radwerkstatt verfolge zwei Ziele: Man wolle bedürftigen Menschen brauchbare Räder zukommen lassen und zugleich mit Hilfe von Recycling Müll vermeiden.

Manche Räder sind eigentlich Sammlerstücke

Der Fachmann Eberhardt stellt mit Blick auf ein Rad, das ein bisschen abseits in einer Ecke steht, fest: dieses Bike der Kult-Marke Yeti sei ein Sammlerstück, eigentlich zu schade, als dass es für ein paar Euro verkauft wird. Es ist zwar nicht mehr komplett im Originalzustand und der Sattel fehle, aber es sei sicherlich 200 bis 300 Euro wert. Komplett wieder aufgebaut würden Kenner der Szene sicherlich sogar 1000 Euro springen lassen. Für derart aufwendige Arbeiten haben die Bietigheimer ADFC-Schrauber aber keine Zeit. Kurz vor 18 Uhr wird schon wieder ein Rad abgegeben, und im Nebenraum warten auch noch rund zwei Dutzend Räder - unter anderem auch zwei E-Bikes – darauf wieder hergerichtet zu werden.

Die Radsaison kann starten

Werkstatt
Die Selbsthilfe-Werkstatt in der Realschule in Aurain befindet sich in dem Gebäude gegenüber der Wilhelmstraße 24 in Bietigheim. Sie ist während der Schulzeit immer freitags von 17 bis mindestens 18 Uhr geöffnet. In den Schulferien ist die Werkstatt meistens geschlossen.

Radbörsen
An den Wochenenden vor und nach Ostern gibt es im Kreis Ludwigsburg viele Radbörsen. Etwa am Samstag, 1. April, von 10 bis 13 Uhr in Sachsenheim in der Sersheimer Straße sowie am Samstag, 22. April, von 10.30 bis 14 Uhr auf dem Rathausplatz in Ludwigsburg.