Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit: das Leben hinter Gittern nimmt vielen Häftlingen den Lebensmut. Jedes Jahr töten sich etwa 60 Gefangene selbst.

Stuttgart - Zuletzt hat der mutmaßliche Parkplatzmörder mit zwei Suizidversuchen Schlagzeilen gemacht. Anfang Juni hätte der Prozess gegen den 56-Jährigen beginnen sollen, der an verschiedenen Treffpunkten für Schwule zwei Männer jeweils mit einem Kopfschuss getötet haben soll. Die Anklage lautet auf zweifachen Mord. Nur Tage vor Prozessauftakt fand ein Justizbeamter den Mann aber leblos in seiner Zelle in Stammheim: Der Aidskranke wollte sich das Leben mit einer Überdosis Medikamenten nehmen, die er sich sprichwörtlich vom Mund abgespart haben muss. Erst vor wenigen Wochen versuchte er ein zweites Mal, seinem Leben mit Schnitten am Hals ein Ende zu setzen.

 

Bundesweit setzen Studien zufolge jedes Jahr etwa 60 Gefangene ihrem Leben ein Ende. Drei waren es 2010 allein in Baden-Württemberg, 18 weitere haben im Land versucht, sich in ihrer Zelle zu töten. Im Jahr 2005 hat es in Deutschland noch 93 Suizide hinter Gittern gegeben, 13 davon im Land. Die Zahlen sind über die Jahre zwar kontinuierlich gesunken, doch das liegt vor allem an der sinkenden Anzahl der Inhaftierten. Die Suizidrate, also die Anzahl der Selbsttötungen im Vergleich zur Zahl der Gefängnisinsassen, ist ziemlich konstant geblieben.

Gefühl der Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht

"Das Risiko, durch Suizid zu sterben, ist für einen Gefangenen um ein Vielfaches höher als für einen freien Menschen", schreibt die Psychologin Katharina Bennefeld-Kersten in einer Studie von 2005, für die sie knapp 500 Selbsttötungen untersucht hat. Das liege einerseits an der Klientel, die schon eine Suchtgefährdung oder geringe soziale Integration mitbringt. Zum anderen gebe es im Gefängnis viel weniger ungeklärte Fälle als draußen: Todesarten wie Ertrinken oder tiefe Stürze scheiden schon allein wegen der örtlichen Gegebenheiten nahezu aus.

Ein weiterer Aspekt ist das Umfeld selbst, das oft mit einem Gefühl der Einsamkeit, Hoffnungslosigkeit, Ohnmacht einhergeht. Am schwersten ist die erste Zeit: Laut der Studie von Bennefeld-Kersten geschieht fast jeder zweite Suizid in den ersten drei Monaten nach der Inhaftierung. Mit jeder Woche, die vergeht, sinkt die Suizidgefährdung. Fachleute sprechen deshalb auch vom Inhaftierungsschock. "Die Häftlinge werden herausgerissen aus ihrem gewohnten Umfeld. Ihre neue Umwelt empfinden sie als latent bedrohlich - und kommen dadurch auf Ideen, die sie sonst vielleicht nicht hätten", sagt Alexander Schmid, der Landesvorsitzende desBundes der Strafvollzugsbediensteten. "Die Inhaftierung ist eine Situation, die Suizidalität hervorrufen oder steigern kann", heißt es auch in einem Papier, mit dem die Beamten in den Justizvollzugsanstalten im Land arbeiten.

Sie können fast nichts selbst regeln

"Untersuchungshäftlinge sind von den Einschränkungen besonders betroffen", sagt Bennefeld-Kersten, die den Kriminologischen Dienst beim niedersächsischen Justizvollzug leitet. Die Zahlen belegen das. Der Fortgang des Verfahrens ist unsicher, viele haben Geldsorgen, Beziehungen drohen zu zerbrechen. Zudem können sie fast nichts selbst regeln: Für Telefonate brauchen sie die Zustimmung des Haftrichters, E-Mails sind ganz tabu. Andererseits stehen bewährte Bewältigungspraktiken wie Sport nicht zur Verfügung. "Das kann sich nachhaltig auf das psychische Wohlbefinden auswirken", sagt Bennefeld-Kersten. Neben den Neuinhaftierten gibt es zwei weitere Risikogruppen. Zum einen sind das Sexualstraftäter, weil sie im Gefängnis auf der untersten Stufe angesiedelt sind; zum Teil müssen Beamte sie wegen heftiger Anfeindungen vor Mitgefangenen schützen und isolieren. Zum anderen sind das Menschen, die jemanden umgebracht haben. Sie haben oft besonders lange Strafe oder womöglich eine Sicherungsverwahrung zu erwarten. "Dazu müssen sie den Verlust einer nahestehenden Person verarbeiten, selbst wenn sie diesen selbst herbeigeführt haben", sagt Bennefeld-Kersten.

Deswegen müssen Beamte nicht nur körperlich fit sein, sondern auch in Psychologie. Sie müssen Einfühlungsvermögen zeigen im Vollzug, einer Männerwelt, die Nina Schuler so umschreibt: "Man gibt nicht gerne zu, dass einem etwas nähergeht." Die Psychotherapeutin leitet den Kriseninterventionsdienst in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Crailsheim. Zwölf Mitarbeiter kümmern sich von dort aus um die Bediensteten der 19 Gefängnisse im Land. Sie werden zum Beispiel kontaktiert, wenn ein Beamter beim morgendlichen Aufschließen einen Toten entdeckt. "Schlimm sind die Vorwürfe danach", sagt Schuler: Hätte man das nicht merken müssen?

Seit 21 Jahren Vollzugsbediensteter

Alexander Schmid vom Bund der Strafvollzugsbediensteten hatte bisher Glück. Seit 21 Jahren ist er Vollzugsbediensteter. Mehrere Selbsttötungen von Insassen hat er in dieser Zeit miterlebt, aber nie war er derjenige, der einen Erhängten fand. Auf diese Art nehmen sich die weitaus meisten das Leben: Anders als in Hollywoodfilmen gezeigt, gilt bei uns das Recht auf Zivilkleidung. Gürtel und Schnürsenkel dürfen getragen werden, wenn der Anstaltsarzt keine Gefahr sieht.

Schmid sagt: "Für die Prävention ist ein enges Verhältnis zu den Gefangenen wichtig." Und auch die feste Zuweisung von Verantwortung für bestimmte Gefangene. Das steht und fällt mit der Personaldecke: "Bei uns betreut ein Beamter 50, 60 Leute von denen, die draußen keiner treffen will."

Notrufknöpfe

Nachts aber sind die Flure leer, die Türen zu. Fast jeder zweite Selbstmörder wird beim morgendlichen Aufschluss entdeckt. Hierzulande versucht man dem mit mehrfach belegten Zellen und Notrufknöpfen vorzubeugen. In Niedersachsen macht gerade ein ganz anderes Modell Schule. Dort hängt in fast 200 Zellen ein Notruftelefon mit direktem Draht zum Seelsorger, das nur während der Nachtstunden besetzt ist. Es ist so erfolgreich, dass Leitungen in weitere Anstalten gelegt werden sollen.

Trotz aller Prävention glaubt Bennefeld-Kersten, dass suizidfreie Gefängnisse illusorisch sind. Auch wenn die jüngste Selbsttötung in Stammheim drei Jahre zurückliegt - der mutmaßliche "Parkplatzmörder" dürfte kaum der Letzte bleiben, der in diesem Zusammenhang erwähnt wird. Er befindet sich mittlerweile auf dem Weg der Besserung. Das Gericht hat den Frühpensionär für wieder verhandlungsfähig gehalten und den Prozess gegen ihn am 29. August eröffnet.