Die Taekwondoschule „Blackbelt“ bietet unter dem Titel „#einearmlänge“ nach den Vorfällen in der Silvesternacht in Köln und Stuttgart spezielle Selbstverteidigungskurse für Frauen an. Ein Besuch in der ersten Stunde.
Stuttgart - Die zwölf Herren und Damen sind ideale Trainingspartner. Sie tragen einen schwarzen Gürtel im Taekwondo. Geschützt sind sie zusätzlich mit Schlagpolstern. Die zwölf Damen, die ihnen gegenüberstehen, sind unbewaffnet. Sie haben keinen blassen Schimmer von Kampfsport. Aber sie wollen lernen, wie sie sich im Notfall verteidigen können. Anja Bührling hatte schon immer Angst, wenn sie nachts alleine unterwegs war. Nicht erst seit den Vorfällen an Silvester in Köln, Hamburg und Stuttgart. Bisher ist sie der Angst aus dem Weg gegangen, indem sie solche Situationen mied. Seit Anfang des Jahres besucht sie einen Abendkurs in der Nähe eines Friedhofes. „Da fühle ich mich auf dem Weg sehr unwohl“, gesteht die 50-Jährige.
Das will sie ändern. Genau wie die anderen Damen, die nun alle versuchen, mit Tritten auf das Schlagpolster ihres Gegenübers zu treten und diesen so in die Knie zu zwingen. Nichts passiert. Die Kampfsportler weichen nicht mal ein paar Zentimeter zurück. „Glauben Sie echt, wenn Sie so treten, fällt der um?“, fragt Trainer Rudolf Winterstein eine der Frauen. „Nein“, entgegnet diese, leicht fragend. Winterstein: „I glaub des au net.“ Sie müsse schon mit aller Kraft zuschlagen.
Der gebürtige Bayer betreibt seit dem Jahr 2009 in der Charlottenstraße 40 die Taekwondo-Schule „Blackbelt“. Seit Anfang des Jahres hat er Eigenschutzkurse für Frauen von 14 Jahren an im Programm. Titel: #einearmlänge. Zwölf Frauen von 15 bis 50 Jahren sind diesem Aufruf gefolgt.
Eine Armlänge Abstand kann durchaus Sinn machen
Die eine Armlänge Abstand ist ja seit der allseits bekannten Empfehlung der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker eher zum Running Gag geworden. „Dabei hat sie wahrscheinlich das Richtige gemeint und sich lediglich falsch ausgedrückt“, vermutet Taekwondo-Großmeister Winterstein. Seit 1979 betreibt er den Sport. Jene besagte eine Armlänge sei ein gängiger Begriff im Kampfsport und der gesellschaftlich anerkannte Abstand zu einer fremden Person. Bei vertrauten Personen sei der näher, bei Familienmitgliedern oder engen Freunden sogar vielleicht gar nicht vorhanden.
Das ist Lektion eins. Winterstein nennt dies den äußeren Ring, den eine Person um sich zieht. „Wer bestimmt nun, wer welchen Ring benutzen darf?“, fragt er. „Beide Personen.“ Da sind sich fast alle Frauen einig. Bis auf ein 15-Jähriges Mädchen. „Nur ich“, sagt sie. Winterstein gibt ihr recht. „Die Dame bestimmt.“ Er rät deshalb zu deutlichen wie „Stop“ oder „Ich möchte das nicht“.
Wenn reden alleine nicht weiterhilft
Das sei aber nur der leichteste Teil der Übungen. „Wenn das nicht reicht, kommt Action ins Spiel“, sagt Winterstein. Pfeffersprays gelten ja quasi als ausverkauft. Auch der kleine Waffenschein erfreue sich derzeit großer Beliebtheit. Im Januar sind nach Auskunft des städtischen Ordnungsamtes bereits 126 Anträge eingegangen. Zum Vergleich: im Jahr 2014 waren es keine 100 Anträge, in 2015 insgesamt 221. Doch der Taekwondo-Großmeister rät von Pfefferspray und Waffen ab. „Des is ois Schmarrn“, sagt der Bayer.
Deshalb bringt der Taekwondo-Meister den interessierten Damen bei, wie sie Schläge und Griffe eines Gegners abwehren, sich aus Umklammerungen befreien können und wo sie einen Mann am besten treffen, um sich seiner zu entledigen, auch wenn er körperlich überlegen sein wird. „Und nein, das ist nicht der klassische Tritt in die Weichteile“, warnt er. Schlicht, weil die Trefferfläche zu klein sei. „Besser ist es, auf den Bauch zu zielen.“
Wichtig bei den verschiedenen Übungen sei aber, dass man sie konsequent trainiere. „Üben, üben, üben“, ist seine Devise. In einer Gefahrensituation überwiege die Angst. Da müssen die Abwehrgriffe perfekt sitzen. „Es gilt dann er oder sie“, betont Winterstein ungefähr zehnmal an dem Abend. Eine vehemente Gegenwehr reiche oft tatsächlich aus, um den Angreifer einzuschüchtern. Letztlich zielen alle Verteidigungsmaßnahmen laut Winterstein nur darauf ab, dass eine schnelle Flucht gelingt. Klingt eigentlich logisch, fällt den meisten aber im entscheidenden Moment nicht ein.
Prävention steht noch vor der Verteidigung
Die eigentliche Verteidigung fängt deshalb laut Winterstein schon früher an, nämlich bei der Vermeidung von gefährlichen Situationen. Wichtig sei es, „aufmerksam“ unterwegs zu sein, Selbstbewusstsein auszustrahlen, den Haustür- oder Autoschlüssel sowie Handy oder Handtasche griffbereit zu haben, da sie zur Not als Waffe eingesetzt werden können. Einsame Gassen zu meiden und das Auto nicht in der letzten Ecke abzustellen gehöre auch dazu. Zudem solle man lautstark auf sich aufmerksam machen und potenzielle Helfer gezielt und persönlich ansprechen zum Beispiel mit „Sie da, mit dem roten Pulli“.
Verbündete schaffen nennt das Gunter Schmidt, Leiter der Kommunalen Kriminalprävention im Referat für Recht, Sicherheit und Ordnung. Er rät ebenfalls zu präventivem Verhalten und dazu, sich im Ernstfall vehement zu wehren. Wer grundsätzlich nachts Angst habe, dem empfiehlt Schmidt schon einen Selbstverteidigungskurs. „Man setzt sich aktiv mit seiner Angst auseinander und gewinnt mehr Selbstbewusstsein.“ Er versteht, dass die Furcht bei Frauen aufgrund der aktuellen Situation zunimmt, hält diese aber eigentlich für unbegründet. Stuttgart sei eine sehr sichere Stadt, Übergriffe auf Frauen selten.
Anja Bührling antwortet auf die Frage, ob sie sich nun wohler fühle, am Ende des Kurses mit einem entschiedenen „Ja!“. Kristina Herbinger aus Sillenbuch kann dies ebenfalls bestätigen. Ihre persönliche Hoffnung: „In meinem Alter ist man bestimmt ohnehin nicht mehr so attraktiv“, sagt die 45-Jährige und muss dann selber ein bisschen lachen.
Trotz des Kurses rät Winterstein, sich bloß nicht zu überschätzen. „Kommens net auf die Idee, mit dem Kerl zu kämpfen.“ Von ‚Komm, steh auf, du Flasche‘ rät der Taekwondo-Lehrer strikt ab. „Vergessens net, die Flucht ist das Ziel.“