Habe ich in meiner Dissertation abgeschrieben? Bei der Suche nach einer Antwort stoße ich auf eine andere Frage: Wie originell müssen Forschungsarbeiten eigentlich sein?

Stuttgart - Annette Schavan will kämpfen, und ich will versuchen, mich in ihre Lage hineinzudenken. Dafür brauche ich jemanden, der mir ein Plagiat vorwirft. Eines der einschlägigen Prüfprogramme könnte das tun, und ich werde nicht enttäuscht. An den Universitäten ist die Software „Turn it in“ verbreitet. Ich lasse sie über meine Dissertation laufen, die ich vor zehn Jahren an der Universität Bielefeld eingereicht habe. Das Urteil des Computers: 13 Prozent meiner Dissertation sollen anderen Quellen im Internet ähnlich sein, 105 Fundstellen alles in allem.

 

Wie viele Fundstellen es bei Schavan sind, weiß ich nicht. Der „Spiegel“ berichtet, der Gutachter der Universität Düsseldorf habe Passagen auf 60 Seiten beanstandet; die anonymen Plagiatsjäger des Internetportals Schavanplag kommen auf 93 Seiten. Doch eine Fundstelle muss noch nichts heißen. In meinem Fall sind 98 Fundstellen Zitate aus der englischen Fachliteratur, die ich mit Quellenangaben versehen habe. Womöglich hat sie das Programm nicht erkannt, weil ich sie nicht mit Anführungszeichen, sondern durch eine andere Schriftart gekennzeichnet habe.

Das Prüfprogramm muss man kontrollieren

Übrig bleiben sieben deutsche Fundstellen ohne Anführungszeichen oder Fußnote. Doch davon sind einige trivial. So hält der Computer zum Beispiel fest, dass die Formulierung „. . . stehen auf den ersten Blick im Widerspruch zu . . .“ auch in einem Gesundheitsreport der Krankenkasse DAK auftaucht. Der Bericht ist aus dem Jahr 2003, meine Arbeit ein Jahr älter.

Auf Seite 45 wird es jedoch inhaltlich. Dort habe ich geschrieben, „dass Kinder erst im Alter von vier Jahren ein Verständnis von Repräsentationen . . . erwerben“. Das ist eine These aus der Fachliteratur, die besagt, dass Kinder erst im Alter von vier Jahren verstehen, dass andere Menschen die Welt anders sehen können als sie selbst – übrigens eine wichtige Voraussetzung für das Lügen. Solange ein Kind noch der Auffassung ist, dass alle Erwachsenen ohnehin wissen, was vorgefallen ist, kann es vielleicht trotzig die Wahrheit bestreiten, aber nicht hoffen, auf diese Weise jemanden zu überzeugen. Der Computer weist mich auf eine Proseminararbeit an der Universität Wien hin, in der steht, „dass Kinder erst im Alter von zwei Jahren ein erstes echtes Verständnis für Intentionen zeigen“. Da sind zwar einige Wörter ähnlich, doch schon die Altersangabe der Kinder zeigt, dass es dort um eine andere geistige Fähigkeit geht.

Aber was, wenn es derselbe Satz gewesen wäre? Auch das muss nicht schlimm sein. Die These, dass Kinder im Alter von vier Jahren einen geistigen Entwicklungssprung machen, geht auf zwei Salzburger Psychologen zurück und wird in der Psychologie breit diskutiert. Da ich sie zu Beginn meiner Arbeit einführe, kann ich ihren Ursprung anschließend als bekannt voraussetzen. Nur bei einer zweiten These der Psychologen müsste ich natürlich erneut auf sie verweisen, da ich sonst ihre Idee als eigene ausgeben würde.

Nicht jedes Zitat ist ein großer Gedanke

Schavan hat in ihrer Arbeit über das Gewissen ein Beispiel des Soziologen Niklas Luhmann aufgegriffen: die Wehrpflicht. Luhmann hatte geschrieben, dass niemand in Situationen gebracht werden dürfe, „in denen sein Gewissen sich gegen ihn selbst wendet und seine Persönlichkeit zerstört“. Das hat Schavan fast wörtlich übernommen und sich darauf verlassen, dass es der Leser auf Luhmann beziehen werde, weil es in einem Kapitel über dessen Theorien steht. Allerdings ist dieses Beispiel Luhmanns nicht so tiefsinnig, als dass man von einem großen Gedanken sprechen könnte.

Auch die Betreiber von Schavanplag scheinen das so zu sehen, denn sie werten nur 16 Fundstellen als „eindeutige Plagiate“. Von solchen Fundstellen scheint meine Dissertation frei zu sein, doch das kann ich streng genommen nicht belegen. Denn die Fachliteratur war auf englisch und meine Arbeit ist auf deutsch. Ich hätte die Plagiate durch Übersetzung verschleiern können. Weil ich meine Arbeit aber nicht selbst übersetzen möchte – das wäre für diesen Zweck dann doch zu aufwendig –, ziehe ich eine Seminararbeit aus meinem Philosophiestudium an der Universität Heidelberg heran. Sie ist 15 Jahre alt, die 3,5-Zoll-Disketten, auf denen sie gespeichert sein könnte, sind nicht mehr lesbar. Ich besitze aber noch ein ausgedrucktes Exemplar.

Ein zweiter Versuch mit einer Arbeit über Kant

In der Arbeit geht es um die „Kritik der reinen Vernunft“ von Immanuel Kant. Ich habe eine Zwei plus dafür bekommen – kein schmeichelhaftes Ergebnis, wenn ich bedenke, dass ich gut ein Jahr daran gearbeitet habe. Die Arbeit ist mir heute fremd. In der Einleitung lese ich, dass es darum gehe, wie Kant den Begriff der Erkenntnis analysiert und mit dieser Analyse begründet, dass ein gewisser „Grundsatz“ Grundlage für jede Erkenntnis sei. Da klingelt nichts bei mir. Geht es Annette Schavan auch so, wenn sie nachliest, was sie Ende der 70er Jahre geschrieben hat?

An mehreren Stellen heißt es in meiner Arbeit: „Diesen Satz Kants verstehe ich wie folgt . . .“ Das klingt, als hätte ich mich um eine eigene Interpretation bemüht. Dennoch bleibt nicht aus, dass meine Sprache kantianisch wird. Da lese ich: „Der Verstand hat das Mannigfaltige erst verbunden, wenn er sich die mannigfaltigen Anschauungen als Einheit vorstellt.“ Und es ist kein Zitat, sondern eine Erläuterung in eigenen Worten. Wahrscheinlich ist das unvermeidlich, wenn man sich im Gedankengebäude großer Denker bewegen will. Drei solcher Interpretationen lege ich dem damaligen studentischen Tutor des Kurses vor, der heute Philosophieprofessor ist. Kommt ihm etwas bekannt vor; habe ich Gedanken aus der Fachliteratur geborgt? Nein, schreibt er zurück, „das klingt schon ziemlich selbst zurechtgelegt“.

Selber denken, heißt die Devise. Aber stimmt das?

Schavan steht im Verdacht, es sich bei der Darstellung des Forschungsstands, der zwei Drittel ihrer Arbeit ausmacht, hier und da zu leicht gemacht zu haben. An fünf Stellen zitiert sie über eine halbe oder ganze Seite, ohne alles als Zitat zu kennzeichnen. Nicht immer decken sich die Texte wörtlich, so als hätte sie sich den Inhalt nur sinngemäß notiert. Ab wann das Umschreiben als eigenen Art der Darstellung gilt, weiß ich auch nach meinem Studium nicht.

Meine Seminararbeit verzichtet auf eine ausführliche Darstellung des Forschungsstands. Ich führe nur sieben Quellen an. Mein späterer Doktorvater hatte mich früh im Studium gewarnt, nur Material aufzunehmen, das ich für meine Argumentation wirklich benötige. „Kein Appendix der Gelehrsamkeit!“, lautete seine Empfehlung. Ich habe sie befolgt, doch Seminararbeiten sind oft anders angelegt, denn mit Literaturangaben kann man glänzen.

In meiner Dissertation hat mir diese Einstellung Kritik eingebracht. Der zweite Gutachter fand manche Darstellung der Fachliteratur „zu knapp“ und kritisierte, dass man zuweilen die Position eines Autors nicht wirklich erkennen könne. Deshalb eine Rückfrage an den damaligen Kant-Tutor: Ist „Selbstzurechtlegen“ nur eine freundliche Umschreibung für skurrile Interpretationen? Nein, nein, antwortet er. Er bestehe in seinen Seminaren darauf. „Ich möchte eine an den zugrunde liegenden Texten orientierte Erörterung einer klar motivierten Frage – möglichst mit eindeutigem Schlussvotum.“ Auf meine Interpretationsversuche Kants geht er nicht ein. Wahrscheinlich will er höflich sein.