Selbstverteidigung für Senioren ist eine Disziplin, bei der ein Gehstock gute Dienste leisten kann. Ein pensionierter Arzt zeigt im Stuttgarter Treffpunkt 50 plus, wie das geht.

Digital Desk: Sascha Maier (sma)

Stuttgart - Mit Jan Fitzner legt man sich lieber nicht an. Als er am Treffpunkt 50 plus im Treffpunkt Rotebühlplatz zu seinem Cane-Fu-Kurs empfängt, lässt der 62-Jährige keine Zweifel daran, dass er im Ernstfall ein mehr als ernst zu nehmender Gegner ist. „Wenn Sie jetzt ein böser Bube wären . . .“, sagt er – und schwingt einen Gehstock präzise durch die Luft, bis er ihn mit Wucht auf eine Pratze schnellen lässt, dass es nur so Schläge tut. Cane-Fu, das ist eine Selbstverteidigungsdisziplin mit Gehstock oder Schirm. „Der Name ist zwar an die chinesische Kampfkunst Kung-Fu angelehnt, technisch gesehen ist es aber eher mit philippinischen Kampfstockkünsten verwandt“, sagt Fitzner.

 

Die Nachfrage nach Selbstverteidigungskursen ist größer denn je. Jan Fitzner erinnert sich, dass zu den ersten Seminaren, die er vor vier Jahren in Esslingen und Göppingen angeboten hatte, noch niemand kam. Heute sieht das anders aus. „Die Cane-Fu-Kurse sind immer komplett ausgebucht“, sagt Barbara Wenzlaff, Studienleiterin des Treffpunkts 50plus.

Sicherheitsgefühl nimmt ab

Das mag an einem Sicherheitsgefühl liegen, das laut einer repräsentativen Langzeitstudie der R+V-Versicherungen in Deutschland abgenommen hat – auch, wenn Kriminalstatistiken eher einen gegenteiligen Trend feststellen.

Dem Zulauf zu Fitzners Cane-Fu-Kursen tut das aber keinen Abbruch. Vor allem Frauen interessieren sich für die Selbstverteidigungsdisziplin, die vor einigen Jahren aus den USA nach Deutschland rübergeschwappt ist. Zumindest zu Jan Fitzner und seinen überwiegend weiblichen Kursteilnehmern – im Internet ist kein anderer Cane-Fu-Lehrer in Deutschland zu finden.

Von Kung-Fu zu Cane-Fu

Doch wie kann ein Allgemeinmediziner im Ruhestand, der in Wendlingen am Neckar lebt, eine Disziplin lehren, in der er selbst niemals wirklich Schüler war? Nicht, dass die Demonstration, wie geschickt Fitzner zu Kursbeginn mit dem Stock umgegangen ist, nicht überzeugt hätte. Aber woher kommen diese Fähigkeiten?

Kampfsport und Kampfkunst haben den jetzt freundlich lächelnden weißhaarigen Mann ein Leben lang begleitet. „Begonnen hat es als Kind mit Judo“, erzählt er. Als junger Mann wechselte er zum Wing Chun, eine Unterart des Kung-Fu, in der Fitzner den 13. Grad trägt, was in anderen Kampfsportdisziplinen einem Schwarzgurt entspricht. Mit den philippinischen Stockkampfkünsten – genannt Arnis und Escrima – setzt er sich seit knapp zehn Jahren auseinander.

DVDs studiert

Genug Basiswissen, um sich den Kampf mit dem Gehstock anzueignen. „Ich habe mir sämtliche DVDs aus den USA und aus China zu dem Thema geholt, die ich finden konnte“, sagt Fitzner. Zuhause mit seiner Frau habe er geübt, welche Techniken effektiv sind, und so seinen ganz eigenen Stil gefunden. „Würfe haben sich – wegen der großen Gefahr, sich selbst zu verletzen – bei Senioren als untauglich erwiesen.“

Also beschränkt sich das Training weitestgehen auf Schläge, Stöße und Hebelbewegungen. Da die Stöcke dabei vermacken, hat Fitzner welche bereitgestellt. Um das Exemplar von Elisabeth Bender wäre es womöglich auch schade. „Das ist eher einer fürs Theater“, sagt die 78-Jährige lachend.

Was treibt die Seniorin dazu, in ihrem hohen Alter noch Kampftechniken zu erlernen? Ängstlich ist Elisabeth Bender jedenfalls nicht. „Aber neulich, da stand am späten Abend so ein Jungspund bei uns am Marienplatz im Garten“, berichtet sie. In einem anderen Selbstverteidigungskurs habe Bender mal gelernt, wie man jemandem mit dem Kugelschreiber oder dem Schlüsselbund in die Augen sticht. „Das ist doch viel zu brutal, so was macht mal als Frau nicht“, sagt sie. Doch junge Eindringlinge mit Stock dazu zu bewegen, Fersengeld zu geben, scheint ihr da eine bessere Methode zu sein.

Es geht um Selbstbewusstsein

Auch Elisabeth Hutter geht es vor allem darum, ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Jemanden zu verletzen, ist für sie die allerletzte Option. Obwohl sie vor 30 Jahren mal überfallen worden war. „Ein Jahr lang bin ich nur mit dem Taxi nach Hause gefahren“, erinnert sich Hutter.

Heute hat sie das überwunden. Hutter spaziert sogar wieder gerne abends durch den Wald. „Und falls dort mal Gefahr im Verzug ist: Genug Stöcke hat es da ja!“, sagt sie mit einem Lachen.

Eine ähnliche Motivation hat auch Hanna Fink. „Zum Beispiel am Hauptbahnhof fühle ich mich nicht sicher“, sagt sie. Schuld daran sei die zwielichtige Bahnhofsklientel, besonders im Winter. Auch den anderen Frauen geht es nicht um Angriff, kaum um die Verteidigung, vor allem aber um Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

So gut ausprägen wie Jan Fitzner wird die wohl keine der Damen mehr. Manchmal muss der Kampfkunst-Experte schmunzeln, wie er unterschätzt wird. Etwa am Flughafen – als ihm die Polizei seine „Waffe“ nach dem Sicherheitsscan wieder aushändigte. Offenbar hatten die Beamten noch keine seiner Stock-Darbietungen gesehen. Doch wie auch: „Im Ernstfall anwenden musste ich meine Techniken zum Glück noch nie.“