Senioren, die ihren Führerschein abgeben, dürfen ein Jahr klang umsonst Bus und Bahn nutzen. Das Pilotprojekt im Kreis Ludwigsburg fällt nicht zufällig in eine Zeit, in der ältere Leute zunehmend als Risikogruppe auf den Straßen gelten.

Korntal-Münchingen - Die Entscheidung, ein Stück ihrer Freiheit und Selbstständigkeit abzugeben, haben Helga und Kurt Öhrle schon vor gut zwei Jahren gefällt. Da fühlte sich das Ehepaar aus Korntal-Münchingen schon nicht mehr so richtig zu Hause auf den Straßen in der Region Stuttgart. Wenn sie mit ihrem VW Golf unterwegs waren, hupten sogar die Lastwagenfahrer oder blendeten das Licht auf – genervt über das Auto, das sich da vor ihnen nur im Schneckentempo fortbewegte. Kurt Öhrle, der meistens am Steuer saß, ging auf Nummer sicher und wollte einfach nicht schneller fahren. „Es hat keinen Spaß mehr gemacht“ sagt der 76-Jährige.

 

Die endgültige Entscheidung traf dann seine Frau. Helga Öhrle fuhr schon immer ungern Auto. Auf längeren Strecken bat ihr Mann sie aber immer öfter, auch mal an das Steuer zu wechseln. Als sie schließlich vorschlug, das Autofahren ganz aufzugeben, hatte er nur eine Bedingung: „Dann musst du den Wagen verkaufen.“ Und so kam es dann.

Helga Öhrle, 73, rief bei einem Autohändler in der Nähe an, zeigte ihm den 15 Jahre alten Golf und verkaufte ihn kurzerhand. 1000 Euro bekamen die Eheleute noch dafür. Jetzt fahren die Öhrles mit der Bahn. Seit ein paar Monaten gehören sie zu den ersten Teilnehmern eines Pilotprojekts im Kreis Ludwigsburg. Das Landratsamt bietet gemeinsam mit dem Verkehrsverbund Stuttgart (VVS) Senioren, die ihren Führerschein freiwillig abgeben, ein kostenloses Ticket für das gesamte Netz an. Voraussetzung: die Teilnehmer müssen älter als 65 Jahre sein und ihre Fahrerlaubnis dauerhaft abgeben. Der Führerschein wird eingezogen und ungültig gestempelt. Es wird auch kein neuer mehr ausgestellt. Die Vereinbarung gilt ein Jahr, danach muss man für den Verbundpass bezahlen.

500 Senioren haben schon ihren Führerschein abgegeben

Als das Projekt im Oktober anlief, waren die Erwartungen verhalten. Doch inzwischen haben gut 500 Senioren ihren Führerschein abgegeben. Mehr als hundert Anträge sind noch in Bearbeitung. „Das Interesse hat uns überrascht“, sagt Annegret Kornmann, die Sprecherin des Landrats. Das Thema Fahren im Alter ist derzeit so präsent wie nie. Meist aus dramatischem Anlass: die Zahl der Verkehrsunfälle mit älteren Leuten ist in den vergangenen Jahren stetig gestiegen. Allein im Bereich des Ludwigsburger Polizeipräsidiums nahm die Zahl der Unfälle 2015 um mehr als zehn Prozent zu. Auch landesweit kracht es immer häufiger, wenn Ältere am Steuer sitzen.

Ein Blick in die Polizeiberichte des jungen Jahres: in Nürtingen demoliert eine 83-Jährige beim Ausparken vier Autos, verletzt einen Mann leicht. In Leonberg gerät ein 79-Jähriger auf die Gegenfahrbahn, ein entgegenkommendes Auto muss ausweichen und schanzt mehrere Meter über eine Verkehrsinsel. Mitte Januar wird ein Mann lebensgefährlich verletzt, als ein 76-Jähriger zwischen Aspach und Mundelsheim in den Gegenverkehr gerät und frontal auf den Wagen des Unfallopfers prallt. Der Senior hatte seinen Neuwagen gerade aus dem Daimler-Werk abgeholt.

Die Polizei spricht mittlerweile von einer Risikogruppe, wenn es um ältere Verkehrsteilnehmer geht. Die politische Debatte über altersabhängige Tests der Fahrtauglichkeit ist in vollem Gange. Erst Mitte Januar lehnte der Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) regelmäßige Prüfungen ab. Denn zur Wahrheit gehört auch: nach wie vor werden in Deutschland die meisten Unfälle von Fahranfängern unter 24 Jahren verursacht. Nicht nur die Alten, auch die ganz jungen Autofahrer sind eine Risikogruppe. Mit einem Unterschied: während Fahranfänger mit der Zeit sicherer unterwegs sind, nehmen bei den Senioren mit zunehmendem Alter die Risikofaktoren noch zu. Sie sehen schlechter und reagieren langsamer.

Mehr als 50 Jahre am Steuer

Kurt Öhrle sagt, er sei schon immer defensiv gefahren. Ein niedriger Benzinverbrauch war ihm beim Auto schon immer wichtiger als viele PS. Mehr als 50 Jahre hat er am Steuer gesessen. Aber er ist nicht der Typ, der seinem Fahrerdasein nachweint. Er hatte keine große emotionale Bindung zu seinen Autos, er wusste nicht besonders viel über sie. Sie schenkten ihm nie ein Gefühl von Freiheit oder Unabhängigkeit. Für ihn waren sie Gebrauchsgegenstände. Wenn er eines verkauft hatte, trauerte er ihm nicht tagelang nach wie einem verlorenen Gefährten. Er war kein Schrauber und kein Bastler, der ganze Wochenenden damit verbrachte, sein Auto zu wachsen, zu polieren oder technisch aufzumotzen. Für ihn waren Autos Fortbewegungsmittel, die funktionieren mussten.

Das ging so lange gut, bis der Verkehr um ihn herum immer dichter und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten immer geringer wurde. Irgendwann ließ er das Auto stehen, wenn es dunkel wurde. Der Anfang vom Ausstieg. Bald darauf benutzte er auch tagsüber den Golf nur noch, wenn es gar nicht zu vermeiden war. Am Ende seiner Autofahrerzeit brachte er es auf kaum mehr als 2000 Kilometer im Jahr.

Als Kurt Öhrle 1958 seine Fahrprüfung ablegte, gab es im gesamten Prüfungsgebiet Balingen im Zollern-Alb-Kreis noch keine einzige Verkehrsampel. Auch eine Autobahnfahrt, heute Standard in jeder Fahrausbildung, musste er nicht absolvieren. Kurt Öhrle stieg an dem Prüfungstag in seinen Fahrschulwagen, dreht eine halbe Stunde lang eine Runde durch die Stadt, bog noch auf eine Landstraße ein und hatte ihn: den Führerschein, den er sich so sehnlich wünschte.

Öhrle brauchte ihn, um von Balingen zu seiner Ausbildungsstelle nach Rottweil zu fahren, 30 Kilometer hin und 30 Kilometer zurück, jeden Tag. Er wurde Notar im Landesdienst, wurde in verschiedene Kommunen im ganzen Land berufen. Er arbeitete in Gärtringen, Böblingen, Bad Liebenzell. In manchen Bezirken musste er viel umherfahren, als Notar auf dem Land war stets auch der Außeneinsatz gefragt.

Der Simca war nach vier Jahren durchgerostet

Die Öhrles kauften sich immer Neuwagen, meist von deutschen Herstellern. Sie fuhren einen VW Passat, einen Golf, früher mal einen Opel Kadett, in den bei Starkregen das Wasser durch das Schiebedach lief. Einen Simca hatten sie auch mal, der war nach vier Jahren durchgerostet. Mit 30 machte dann auch Helga Öhrle den Führerschein. 1971 war das, da waren ihre beiden Töchter schon auf der Welt. Wirklich gern, sagt sie, sei sie nie gefahren.

Früher fuhren sie auch in den Urlaub. Weite Reisen waren nie dabei, meist zum Wandern, zum Beispiel nach Passau. Einen schweren Unfall mussten sie nie erleben. Einmal, sagt Kurt Öhrle, habe er aber richtig Angst bekommen. Auf der Rückfahrt von einem Besuch bei der Tochter in Freiburg habe es angefangen zu schneien. Seine Frau saß am Steuer und rutschte auf glatter Straße fast in den Graben.

Heute brauchen die beiden kein Auto mehr. Von ihrer Wohnung in einem modernen Mehrfamilienhaus sind es nur wenige Schritte bis zum Bahnhof Münchingen. Die Strohgäubahn bringt das Ehepaar dann zur S-Bahn-Haltestelle. In einer halben Stunde sind sie in der Stuttgarter Stadtmitte.

Sie haben sich in ihrem Leben ohne Auto eingerichtet. Wenn Kurt Öhrle jetzt Getränke einkauft, packt er die Sprudelkisten auf eine Sackkarre und zieht sie nach Hause. Das Gleiche macht seine Frau mit ihrem Einkaufswagen voll Lebensmitteln. Und wenn doch mal ein Auto gebraucht wird, wohnt die Tochter in der Nähe und kann aushelfen. Das sei aber erst einmal vorgekommen, sagt Helga Öhrle. „Wir kommen sehr gut klar.“

Kurt Öhrle fasste den Entschluss auch für die Umwelt

Der Entschluss, ihre Führerscheine abzugeben, trafen die beiden nicht nur aus Sicherheitsgründen. Auch wegen der Umwelt. Kurt Öhrle bewirtschaftet seinen Garten noch komplett ohne Maschinen. Gestutzt wird mit der Heckenschere, gefällt mit der Handsäge und gemäht mit der Sense – „Motorrasenmäher stinken und sind laut“, sagt Kurt Öhrle. Vor einiger Zeit erhielt er eine neue Hüfte, die Augen mussten auch schon operiert werden. Aber noch ist er körperlich fit. Für die Zeit, in der beide nicht mehr so mobil sind, haben sich die Eheleute bereits vorbereitet: Die Getränke könnten geliefert werden, auch der Supermarkt hat inzwischen einen Bring-Service. In ihre Wohnung unter dem Dach führt ein Aufzug. Den Entschluss, das Auto wegzugeben, haben die Öhrles gut durchdacht.

Wenn sie heute in den Urlaub fahren, nehmen sie den Zug oder machen Gruppenreisen mit dem Bus. In ihrer Wandergruppe seien aber auch viele Altersgenossen, die nach wie vor überzeugte Autofahrer seien, sagte Helga Öhrle. Zwar haben sie und ihr Mann versucht, auch andere davon zu überzeugen, den Autoschlüssel endgültig an den Nagel zu hängen – jedoch bisher erfolglos. Noch keiner der Bekannten wollte ihrem Beispiel folgen. „Da beißt man teilweise auf Granit“, sagt Kurt Öhrle. Einer, auch schon über 70, hat sich jetzt erst ein neues Auto bestellt.