Wegen der Euthanasieverbrechen der Nazis gibt es erst jetzt wieder eine Rentnergeneration geistig behinderter Menschen. Besuch in einer Wohngruppe.

Schorndorf - Vier Männer am gedeckten Tisch. Es riecht nach frischem Kaffee, der Kuchen ist aufgeschnitten. Bevor jeder zugreift, wird gemeinsam gesungen: „Vom Aufgaaang der Sooonne bis zu ihrem Niedergaaang . . .“ Dazu zeichnen die Senioren einen Bogen in die Luft, um den Lauf des Sterns anzuzeigen. Ein Morgenlied zum Kaffeekränzchen.

 

Wolfgang Lange ist der Älteste in der Runde. Er hat an diesem Tag Telefondienst in der Rentnerwohngruppe der Diakonie Stetten in Schorndorf-Weiler. „Ja, ja, ich komm schon“, sagt er leicht genervt, als der Apparat klingelt. Wolfgang Lange ist nicht gerade der Gesprächigste. Wenn er nicht antworten mag, blickt er einfach in eine andere Richtung. Am liebsten erzählt er von seiner Reise in die Heimat – „zur Beerdigung meiner Mutti“. Oder von seinem 70. Geburtstag, der im Sommer ansteht. „Das wird ein Fest!“ sagt er.

Wegen der Euthanasie-Verbrechen der Nationalsozialisten gehören Wolfgang Lange und seine Mitbewohner zur ersten Seniorengeneration geistig behinderter Menschen nach dem Krieg. Für Träger der Behindertenhilfe bringt diese neue Situation einige Veränderungen mit sich. Sei es der zunehmende Pflegebedarf oder die Notwendigkeit neuer Seniorenangebote sowie Arbeitsmodelle in den Werkstätten, um den Übergang in den Ruhestand zu erleichtern. Die Diakonie etwa lässt Mitarbeiter zu Pflegethemen wie Sturz- und Druckstellenvorbeugung oder Demenz schulen. In den Fortbildungskursen geht es darum, wie Menschen mit Behinderung in diesem Lebensabschnitt begleitet werden können oder wie man ihnen helfen kann, mit dem Tod von Mitbewohnern umzugehen.

So lang wie möglich in den eigenen vier Wänden

Ergebnis langer Überlegungen ist auch die Seniorengruppe im Wohnheim Weiler. „Wir wussten, dass irgendwann die ersten Rentner aus den Werkstätten kommen und dass sie eine andere Betreuung brauchen. Aber wir wollten nicht, dass sie umziehen müssen, nur weil sie 60 Jahre alt sind“, sagt der Teamleiter Wilhelm Keßler. Auch Senioren mit Behinderung haben den Wunsch, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden bleiben zu können. So lange wie möglich, heißt auch in diesem Fall, bis der Pflegebedarf so groß wird, dass er nicht mehr zu bewältigen ist.

Im Jahr 2010 hat die Seniorengruppe des Wohnheims ihren Betrieb aufgenommen. Wolfgang Lange war von Anfang an dabei. Als Teilzeitrentner. Denn trotz seines fortgeschrittenen Alters arbeitet er noch zu 50 Prozent bei den Remstal Werkstätten der Diakonie Stetten. Dort montiert und verpackt er Fliegenklatschen. Auf die Frage, ob er denn nicht allmählich aufhören möchte mit dem Arbeiten, bleibt er lieber stumm. „Ihm fällt der schleichende Abschied leichter“, erklärt Wilhelm Keßler.

Viele Menschen mit Behinderung tun sich schwer, wenn sie in Rente gehen sollen. Selbst, wenn sie körperlich schon kaum mehr in der Lage sind zu arbeiten. „Die Werkstatt ist ihnen besonders wichtig, weil sie dort ihre sozialen Kontakte haben und Anerkennung erfahren“, sagt Nadin Schippmann von der Hochschule Osnabrück. Sie untersuchte in einem dreijährigen Forschungsprojekt, wie es mit der Lebensqualität von älteren Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung aussieht, beschäftigte sich dabei auch mit dem Übergang der Werkstätten-Mitarbeiter in die Rente. „Es hat sich gezeigt, dass kaum einer etwas über den Ruhestand weiß“, sagt Schippmann, die jetzt Rentner-Workshops entwickelt hat. „Manche waren richtig überrascht, dass Ruhestand eben nicht bedeutet, nur auf dem Sofa zu sitzen, sondern dass man auch mehr Zeit für seine Hobbys hat.“

Rente bedeutet: draußen in der Sonne sitzen

Hans-Peter Killig ist nur deswegen im Februar in Rente gegangen, weil es wirklich nicht mehr ging. „Wir haben eigentlich schon länger gesehen, dass ihn das Arbeiten zu viel Kraft kostet“, sagt Wilhelm Keßler. Killig hingegen konnte sich erst mit dem Gedanken anfreunden, nachdem er bei der Arbeit vor Schwäche zusammengebrochen war und sich in der Seniorengruppe wieder erholt hatte. Dort gefiel es dem 62-Jährigen so gut, dass er dann doch nicht mehr arbeiten wollte. „Als sie mir gesagt haben, dass ich nicht mehr schaffen muss, bin ich allen um den Hals gefallen“, sagt er und schlürft genüsslich seinen Kaffee. Er ist in der Gruppe angekommen, trauert seinem Arbeitsleben nicht mehr nach.

Auch der 60-jährige Alexis Hellmerich schaut nur noch an seiner alten Arbeitsstätte vorbei, wenn er seine Freundin abholt. Als die Rentenanfrage des Sozialträgers kam, war für ihn klar: „Wenn ich mal 60 bin, dann bin ich mal Rentner.“ Schließlich habe er lang genug gearbeitet. In seinem Zimmer hängen die Urkunden zum 30- und 35-jährigen Betriebsjubiläum. Zufrieden sitzt er nun da und sagt es noch einmal: „Ich bin im Ruhestand.“ Das Wort gefällt ihm gut. Weil es zu seinem neuen Leben passt. Dass er jetzt nicht mehr so früh aus dem Bett muss, gehört für ihn genauso dazu wie ein kurzes Nickerchen vor dem Mittagessen. Rente ist für ihn, draußen in der Sonne zu sitzen und seine Musik noch öfter zu hören. Aus den Regalen in seinem Zimmer quellen Schallplatten und CDs. Gestern Abend hat er wieder mal die Zauberflöte aufgelegt.

Sein Mitbewohner Gerhard Hüttner ist umtriebiger. Jeden Tag setzt er sich vor dem Mittagessen 40 Minuten auf den Heimtrainer. Und am Nachmittag geht der 66-Jährige Brot einkaufen, bei Wind und Wetter. Und egal, was sonst gerade auf dem Programm steht: Dann kommt er eben ein bisschen später dazu. Die Seniorengruppe unternimmt jeden Tag etwas gemeinsam. „Die Männer sind von ihrem Arbeitsleben einen strukturierten Alltag gewöhnt, und sie brauchen diese Fixpunkte auch“, sagt die Wohnheim-Mitarbeiterin Rita Kohnle. Montags geht die Gruppe in den Ort zum Einkaufen. Jeder holt sich, was er so für seinen persönlichen Bedarf braucht, für Wolfgang Lange ist das Spezi und Salami. Mal wird gemeinsam gekocht, mal geht es ins nahe gelegene Schwimmbad.

Donnerstags geht’s in Café

Oder man holt die alte Kaffeemühle heraus. „Die Kaffeemühle erzählt uns immer eine Begebenheit aus ihrem Leben, und sie ermutigt manchmal auch die Bewohner dazu, über ihr Leben zu sprechen“, sagt Rita Kohnle. Auf den Donnerstag freuen sich die älteren Herren besonders. Da geht es nachmittags ins Café, wie es sich für richtige Rentner gehört. Außer es steht der Seniorennachmittag der evangelischen Kirchengemeinde auf dem Programm. „Da fallen wir immer sehr angenehm auf“, sagt Rita Kohnle. Denn Wolfgang Lange gilt als der Caruso von Schorndorf-Weiler. Die alten Lieder singt er aus voller Kehle mit – natürlich auswendig. Kontakt zu anderen Senioren und zu Schulkindern im Ort haben die Bewohner alle zwei Monate beim „Lesecafé“. „Alexis liest mit großer Begeisterung vor“, sagt Kohnle.

Es ist später Nachmittag geworden. Die Herren werden langsam unruhig und halten durchs Fenster Ausschau nach den anderen Bewohnern, die in den Werkstätten arbeiten. „Wenn gleich meine Freundin kommt, umarme ich sie erst mal. Einfach so“, sagt Hans-Peter Killig. Kurz darauf füllt sich das Haus mit neuem Leben. Insgesamt leben 38 Leute in dem Heim, verteilt auf größere und kleine WGs.

Die Gemeinschaft mit den Jüngeren ist ein wesentlicher Bestandteil des Konzepts. So soll der Gefahr vorgebeugt werden, nach dem Arbeitsleben in ein Loch der Einsamkeit und Untätigkeit zu fallen. Auch für die erwerbstätigen Bewohner sei das von Vorteil, sagt Keßler. „Sie sehen die Seniorengruppe, erfahren viel darüber und tun sich später vielleicht mal leichter, wenn es um die eigene Entscheidung für den Ruhestand geht – das könnte doch auch ein Modell für Normalbürger sein.“ Gerhard Hüttner fasst das WG-Leben auf seine Art zusammen: „Ich fühl mich saumäßig wohl.“