Der Chopin-Preisträger Seong-Jin Cho hat in Stuttgart bei den „Meisterpianisten“ gespielt.

Stuttgart - Erst kommt die Technik, dann der Ausdruck. Das war schon beim großen Grigory Sokolov so, der, nachdem ihm 1966 der Gesamtsieg beim dritten Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerb zugesprochen worden war (übrigens unter Protest des Publikums!), erst einmal nur als virtuoser Handwerker glänzte. Der Rest, also das Individuelle, Kreative und Besondere, ist ihm erst mit der Zeit zugewachsen. Und als Sokolov vor wenigen Wochen bei den „Meisterpianisten“ im Stuttgarter Beethovensaal auftrat, hat er – wieder einmal – bewiesen, dass Technik erst dann wirklich überzeugt, wenn sie Raum schafft für individuellen Ausdruck. Allein ein Pianoton von Sokolov, das ganz leise ist und dennoch prägnant, kann einen zu Tränen rühren. Das Publikum war hingerissen, obwohl der 68-Jährige Mann am Klavier kaum von ihm Notiz nahm, und nach sechs Zugaben war es kurz vor elf.

 

Jetzt ist ihm am selben Ort der Gewinner des jüngsten Chopin-Wettbewerbs (2015), der erst knapp 24-jährige Südkoreaner Seong-Jin Cho, nachgefolgt. Auch er nickt dem Publikum bei seinem Auftritt nur kurz zu – und verharrt lange vor den Tasten des Steinways, bevor er zu spielen beginnt: erst Schumanns Fantasiestücke op. 12, dann Beethovens „Pathétique“, beides mit schnellen, weichen Fingern und exzellent ausgeformten Phrasen. Das singt, stürmt und drängt, das hat Plastizität und Leidenschaft. Was hier (noch) fehlt, wird einem erst im zweiten Programmteil bewusst: Da nämlich verleiht Cho Chopins dritter Sonate und den drei Sätzen von Debussys zweiter „Images“-Sammlung eine derartige Tiefe und Verdichtung, dass man aus dem Staunen nicht herauskommt. Was bei Schumann noch konstruiert wirkte und – vor allem in den Mittelstimmen – eine Spur zu unbeweglich, zu flach, zu frei und zu wenig sprachlich durchgeformt, das wird bei Debussy ganz organisch fließende Kontur (mit fein glitzernden Farblichtreflexen bei den „Poissons d’or“, den Goldfischen) und bei Chopin sanfte Beweglichkeit. Geradezu katzenpfotenartig gleiten die Finger des Pianisten hier über die Tasten – bis hin zum (mit hohem Risiko genommenen) extrem Leisen im Largo-Satz. Mozart und Chopin („Revolutionsetüde“) gibt’s als Zugaben vor einem leider nur schütter, aber mit erstaunlich vielen asiatischen Zuhörern gefüllten Saal. Wenn Seong-Jin Cho so weitermacht, dann wird sich das ändern, denn er hat riesiges Potenzial. Dann wird er bald auch das deutsche Repertoire tief durchdringen und zum Leuchten bringen. Spätestens in Sokolovs Alter dürfte aus dem Zauberlehrling auch ein Meister geworden sein.