Johann Jakob Thills Leben währte nur knapp 27 Jahre. Doch er erregte bei den Literaten seiner Zeit gehörig Aufsehen

Weinstadt - Schnee lag auf den Feldern, als der junge Mann von Großheppach nach Kleinheppach im Rems-Murr-Kreis stapfte, um einen Todkranken zu besuchen. Das Land Württemberg hatte zwei schlimme Hungerjahre hinter sich, Kälte hatte in den Jahren 1771 und 1772 die Aussaat verhindert. Das Fleckfieber grassierte, die Menschen starben wie die Fliegen, die Todesurkunden in den Ratsstuben stapelten sich.

 

Obwohl der 24-jährige Vikar des Großheppacher Pfarrers noch befohlen hatte, Wacholder zu verbrennen, um die Stube zu desinfizieren, steckte er sich bei dem Krankenbesuch an. Eine Woche später, am 31. März, läutete die Totenglocke über der Leiche des 24-Jährigen. Damit kam nicht nur der einzige Sohn des Großheppacher Pfarrers um, ein vielversprechendes literarisches Talent kam auch nicht zur vollen Blüte: Johann Jakob Thill, Dichter, Dramatiker und Historiker.

„Zu frühe für die vaterländische Geschichte, für die Dichtkunst starb er“, schrieb sein Freund David Christoph Seybold über Thill. Sein Werk sei „vom wahren Saitenklang der tragischen Muse erfüllt“, urteilte Friedrich Schiller.

Johann Jakob Thill, geboren am 22. Dezember 1747, schrieb duftige Liebesgedichte und launige Satiren auf strenggläubige Pietisten und auf abergläubische Dörfler. Er ist im Stuttgarter Waisenhaus auf die Welt gekommen, ein Zentrum des damals neuen Pietismus. Thills Vater war dort Waisenhausprediger, bevor er in Großheppach die Pfarrstelle übernahm. Sein Sohn Johann Jakob wurde zum Studium nach Tübingen geschickt, wo er auch Gedichte schrieb, was in seiner Zeit nicht ganz ungefährlich war.

Mit Argusaugen wurden die jungen Theologen überwacht, und manch einer landete im studentischen Gefängnis, wenn er bei der Niederschrift von Liebesgedichten erwischt wurde. Thill verspottete eingebildete Gelehrte und den Hausmeister des Tübinger Stiftes, der die ungezogenen jungen Leute mit einem Prügel in der Hand zu jagen pflegte. Am Vorabend der Französischen Revolution appellierte er an die deutsche Nation und versuchte, die Zeitgenossen im zerfallenden Reich zur Einheit aufzurütteln.

Er lobte das Landleben, aber nicht im galanten Sinne – es ging dabei nicht um den Eros von schönen Schäferinnen –, sondern im Rousseau’schen Sinne, nämlich zurück zur Natur, zur Natürlichkeit: „Pur Natur nicht Witz der Stadt“ schreibt er den schönen Bauernmädchen aus dem Remstal zu. Zwei Dramen beginnt er zu schreiben: eines über Arminus, den Helden der Schlacht im Teutoburger Wald, ein Stoff, der von Frankreich her nach Deutschland kam, und eines über die Belagerung von Wien. Im Stammbuch, eine Art Poesiealbum, von Christian Kessler, einem hohen württembergischen Kirchenbeamten aus Kirchheim unter Teck, ist eine Zeichnung Thills erhalten. Der Dichter hat das Werk mit wunderbar klarer Unterschrift versehen; es ist das einzige greifbare Lebenszeugnis, das bisher aufgetaucht ist; es gibt auch keine Manuskripte der Dramen.

Thill ist auch einer der ersten Dichterpfarrer Württembergs gewesen; eine Sonderentwicklung der Literaturgeschichte, die bis ins 20. Jahrhundert reicht. Er steht auch am Anfang eines dichterischen Zirkels am Tübinger Stift: Hölderlin, Schelling und Hegel erlangten später Weltgeltung. Mörike, Uhland und Hauff zählten in Deutschland zu den führenden Köpfen.

Die Stiftler wussten, was sie Thill zu verdanken hatten. 17 Jahre nach Thills Tod bekommt sein greiser Vater Besuch. Ein 19-Jähriger steht vor der Tür des Großheppacher Pfarrhauses, es ist Friedrich Hölderlin. Hölderlin erkennt auf dem Grabstein, dass Thill im selben Jahr 1772 gestorben war wie sein leiblicher Vater Heinrich Friedrich Hölderlin. Er sieht sich mit Thill schicksalhaft verbunden und schreibt das schwermütige Gedicht „An Thills Grab“: „Der Leichenreihen wandelt still herab. . .“, das er mit realen Erinnerungen an den Tod seines Stiefvaters Johann Christoph Gok ausschmückte. Aber mehr noch, Hölderlin sucht das abgelegene Waldtal in Tübingen auf, wo Thill einst seine Verse schrieb.

Bis in sein dichterisches Verstummen hinein bleibt ihm Thill lebendig: „Und Thills Tal, das. . .“, heißt ein Versbruchstück in dem Fragment „Ihr sichergebaueten Alpen“, das Hölderlin schrieb, bevor ihn der Wahnsinn umschloss.

Durch die Jahrhunderte hat Thills Tod immer wieder die Menschen angerührt. Nie aber hat sich jemand für Thill an seinem letzten Wirkungsort in Großheppach eingesetzt – bis jetzt. Bruno Deißler, ein Stadtrat von Weinstadt, wurde durch das Marbacher Literaturarchiv auf Thill aufmerksam. Thills Talent und sein Tod im Dienst am Nächsten haben ihn beeindruckt, und Deißler warb im Weinstädter Kulturausschuss dafür, dem Dichter einen Platz zu widmen. Dabei hat er eine Fläche nahe der Friedrich-Schiller-Schule im Auge. Sonst erinnert im Weinstadter Stadtteil Großheppach nur wenig an Thill. Sein Grab ist nicht erhalten, nur eine Mauer des Friedhofs steht noch, und ein uralter Holunderbaum. Weil sich Holunder am selben Standort stets aufs Neue verjüngt, sind die heutigen Bewohner des Pfarrhauses sicher, dass seine Zweige einst Thills Grab beschatteten.

Das Pfarrhaus und die Kirche, in der Thills Totenpredigt erscholl, existieren noch, auch das Stuttgarter Waisenhaus hat den Krieg überstanden und beherbergt heute verschiedene Restaurants. Wo Thills Tälchen lag, das weiß heute niemand mehr. Lauschige Waldtälchen, die zu einem Spaziergang einladen, gibt es rund um Tübingen allerdings genug.

Thills Leben

1747
wird Johann Jakob Thill am 22. Dezember in Stuttgart vermutlich in einem Waisenhaus geboren. Sein Vater Jakob Georg Thill war dort Waisenhausprediger bis ins Jahr 1758. Ein Bild von Till ist nicht erhalten.

1761
kommt der junge Johann Jakob Thill in die niedere Klosterschule nach Blaubeuren, zuvor hatte er das sogenannte Landexamen bestanden und zählte somit zu den besten Schülern ganz Württembergs.

1763
geht der 16-Jährige in die sehr abgeschiedene Klosterschule Bebenhausen, heute ein Stadtteil von Tübingen. Zum ersten Mal, so ist es jedenfalls überliefert, sieht der Jugendliche einen Bücherladen.

1765
wird Thill Baccalaureus an der Tübinger Universität und zieht in das Tübinger Stift ein.

1771
macht der Dichter sein Examen und wird Vikar bei seinem Vater in Großheppach.

1772
stirbt Johann Jakob Thill am Fleckfieber, das er sich bei einem Krankenbesuch holt.