Der Marienplatz in Stuttgart ist die Endhaltestelle der Zahnradbahn. Anders als bei anderen Endstationen befördert die Zacke ihre Fahrgäste nicht an den Stadtrand, sondern ins Herz von Stuttgart. Eine Liebe mit gemischten Gefühlen.

Digital Desk: Beate Grünewald (bpu)

Stuttgart - Ächzend und rumpelnd arbeitet sich die Zahnradbahn bergabwärts die Alte Weinsteige hinunter in Richtung Marienplatz. Der Blick der Fahrgäste schweift über die Dächer Stuttgarts. Hier und da zückt jemand ein Smartphone und versucht, das Panorama festzuhalten.

 

„U-Bahn fahren, U-Bahn fahren“ kräht ein vielleicht drei Jahre alter Junge und wippt auf dem Schoß seines Papas auf und ab. Die Mutter sitzt den beiden gegenüber und redet ruhig auf das Kind ein: „Zacke, Schatz. Es heißt Zacke. Nicht U-Bahn.“ – „Zacke! Zacke!“, antwortet der Kleine, woraufhin sich die Eltern einen stolzen Blick zu werfen.

Die Zacke ist eben die Zacke – und keine Stadtbahn. Das wissen auch die Fahrer, die ihre Leidenschaft für die alte Bahn verbindet. Von 600 Stadtbahnfahrern in Stuttgart fahren lediglich 30 regelmäßig Zahnradbahn, denn nicht jeder Stadtbahnfahrer darf automatisch Zahnradbahn fahren.

Zacke auch bei den Fahrern beliebt – und das hat einen Grund

„Die Zacke ist viel anspruchsvoller als die Stadtbahn“, erklärt Robert Westphal. Der 53-Jährige ist Ausbilder bei der SSB und weiß, dass das Fahren der Zahnradbahn am Marienplatz und der historischen Seilbahn am Südheimer Platz zu den Königsdisziplinen gehört. „Da geht nichts automatisch, es ist alles Handarbeit“, erklärt er und verliert sich in ausufernden Details über die Bremsen. Fünf Wochen dauert die Ausbildung an der Zacke, am Ende stehen eine schriftliche, eine mündliche und eine praktische Prüfung. „Das sind Profis“, sagt Westphal über die Zacke-Fahrer.

Doch die alte Technik ist nicht das einzige, das die Zacke zu etwas Besonderem macht. Bei den Fahrern ist sie auch aus einem anderen Grund beliebt: „Man hat viel Kontakt zu den Fahrgästen“, sagt Dimitrios Soultanidi, der seit 25 Jahren bei der SSB arbeitet und seit 18 Jahren Zahnradbahn fährt. Von manchen Fahrgästen werde man als Zackefahrer sogar per Handschlag begrüßt, erzählt er. Beim Stadtbahnfahren undenkbar! Das sei viel schnelllebiger und anonymer.

Marienplatz ist eine ganz besondere Endhaltestelle

„Es ist ein angenehmer Dienst“, schließt sich Oliver Haug der Schwärmerei an. Auch er gehört zu der Gruppe von Zacke-Fahrern. In einem nicht mal zehn Quadratmeter großen Aufenthaltsraum unter der Zahnradbahn am Marienplatz macht er sich in Ruhe sein mitgebrachtes Essen warm, während ein Kollege für ihn die nächste Fahrt nach Degerloch übernimmt.

Haug fährt die Zacke seit sechs Jahren und mag die Veränderungen des Marienplatzes, die er als Fahrer im Halbstundentakt beobachten kann. „Wenn man sonntagmorgens startet, ist der Platz wie ausgestorben“, erzählt er. Im Laufe des Tages werde es dann voller und voller. Treue Passagiere der Zacke sind neben den Anwohnern auf der Halbhöhe außerdem zahlreiche Touristen. Dann wird der Zackefahrer gelegentlich zum Stadtführer und beantwortet geduldig die Fragen der Fahrgäste: Wo geht es denn zum Fernsehturm? Wo kann man gut essen und wie kommt man zur hölzernen Seilbahn?

Früher haben sich Mädchen am Marienplatz gefürchtet

Der Marienplatz ist wohl eine der untypischsten Endhaltestellen der SSB. Anders als bei anderen Endhaltestellen führt die Linie nämlich nicht an den einsamen Stadtrand, sondern mitten ins Herz der Stadt: den Marienplatz. Und über diesen ist schon vieles geschrieben worden. Zum Beispiel die romantische Geschichte, wie der Marienplatz zu seinem Namen kam. Oder wie der damals zugewachsene Platz in den Neunziger Jahren als Treffpunkt von Junkies galt, um den man einen weiten Bogen machte. Und natürlich die Geschichte vom großen Umbau im Jahr 2003, bei dem der Platz im wahrsten Sinne des Wortes platt gemacht wurde (mehr zur Entwicklung in der Bildergalerie).

Und so wurde aus dem unheimlichen Park schließlich eine unheimliche Betonwüste. So mancher Anwohner hat sich bis heute noch nicht an den Anblick gewöhnt. „Es ist sehr kahl und im Sommer extrem heiß“, sagt Volker H., der mit der Zahnradbahn auf dem Weg nach Hause ist. Der 72-Jährige wohnt seit vier Jahrzehnten in Stuttgart und kann sich noch gut erinnern, wie der Marienplatz früher aussah.

„Meine Töchter haben sich damals gefürchtet, wenn sie vom Marienplatz mit der Zacke nach Hause fahren wollten“, erzählt der Rentner. „Wir haben dann telefoniert und die Verbindung gehalten, bis sie daheim waren“. Bei dieser Erinnerung huscht ein Schmunzeln über das sonst ernste Gesicht. Die heutige Kneipen- und Cafékultur kann auch er nur als „enormen Fortschritt“ bezeichnen. Bevor er am Pfaffenweg aussteigt, murmelt er noch: „Aber ein paar mehr Bäume als die paar am Rand wären schön gewesen“.

Ein Ort mit einer ungeheuren Anziehungskraft

Trotz Beton und fehlender Bäume hat der Platz, eingekreist von Supermärkten, Cafés, Restaurants, Arztpraxen und Hotels, eine ungeheure Anziehungskraft. Das spürt auch Sandra Hainzmann. Die 27-Jährige studiert Ernährungsmanagement an der Uni Hohenheim und wohnt mitten im Stuttgarter Süden, im Kaiserbau. „Im Sommer hat man hier so lange Sonne wie sonst nirgends in Stuttgart“, nennt sie einen weiteren Pluspunkt des Marienplatzes. „Ich denke, das macht es aus, das macht den Marienplatz so schön.“

Obendrein ist die gute Verkehrsanbindung am Marienplatz kaum zu toppen. Die Bahnen befördern Touristen und Einheimische von hier aus in den Stadtkern oder überwinden 210 Höhenmeter bis an den Kesselrand. Sandra Hainzmann nimmt die Zahnradbahn regelmäßig, um zur Uni zu kommen. Dafür braucht sie nur eine halbe Stunde: zehn Minuten die Weinsteige hinauf und ab Degerloch mit dem Bus weiter. „Mit der Stadtbahn gibt es keine schnellere Verbindung“, sagt sie. Außerdem schätzt die Studentin aus dem Schwarzwald die familiäre Atmosphäre: „Der Marienplatz ist wie ein Dorf in der Stadt“, sagt sie. „Jeder kennt jeden.“

Der Hype bleibt Geheimnis

Und auch bei Touristen ist ein Besuch des Marienplatzes und eine Fahrt mit der Zacke mittlerweile fester Programmpunkt. Im Sommer stehen die Menschen hier lange in der Schlange, um ein Eis der Gelateria oder einen Fahrradstellplatz auf der Zahnradbahn zu ergattern.

Schon längst ist die Pizzeria L.A. Signorina kein Geheimtipp mehr und lockt mit ihren ungewöhnlichen Pizza-Kreationen à la Schwarzwurzel oder Spargel. Und auch wer keine Lust hat, groß Geld auszugeben, ist am Marienplatz ein willkommener Gast: Stuttgarter treffen sich mit dem Sixpack Bier aus dem Supermarkt zum Feierabend auf den Stufen, während Kleinkinder die Tauben über den Platz jagen und Obdachlose auf der Suche nach Pfandflaschen fündig werden. Hier ist Platz für jeden und alles: mittwochs ist Wochenmarkt, im Sommer Marienplatzfest und im Winter alternativer Weihnachtsmarkt.

Und wenn der Marienplatz an Schlechtwettertagen wie leer gefegt ist und obendrein die Zahnradbahn in der Werkstatt steht, fragt sich der ein oder andere Tourist, was es mit dem Hype um diesen hässlichen, menschenleeren, zubetonierten Platz und diese alte Bahn eigentlich auf sich hat.