Erfolgreich den Job hingeschmissen: Die Ex-Friseurin Anna Gohmert aus Stuttgart wollte mehr gestalten als den Look ihrer Kunden – und verließ das haarige Metier.

Stuttgart - Ihre Performances erinnern an Stegreiftheater. Zum Beispiel, wenn sie sich zu Fremden in den Zug setzt und die Quasselstrippe gibt. Unablässig plaudert Anna Gohmert dann über die Gegend draußen, über Lippenstiftfarben oder andere Alltagsthemen. Wie man Schweigen überspielt, ohne dass es künstlich wirkt, weiß die Künstlerin aus ihrer früheren Tätigkeit. Gohmert ist gelernte Friseurin, auch wenn ihre anarchisch ungebändigte Lockenpracht so gar nicht den färbefreudigen Stylingidealen der Branche entspricht. „Der Beruf hat viel mit Kommunikation zu tun“, sagt sie. Doch nicht nur deswegen entschied sich die heute 33-Jährige nach dem Abitur für die unter Gymnasiasten sonst eher unbeliebte Ausbildung. Ihr eigentliches Karriereziel war die Maskenbildnerei, die damalige Regelung setzte hierfür jedoch einen Abschluss als Friseurin voraus.

 

Obschon der Lebensweg der Stuttgarterin dann aber eine ganz andere Abzweigung genommen hat, fühlt sie sich in ihrem ehemaligen Ausbildungssalon, wo unser Treffen stattfindet, immer noch ein wenig wie zu Hause. Gern demonstriert sie, dass sie den professionellen Umgang mit Kamm und Schere noch nicht verlernt hat. „Haareschneiden“, betont Gohmert, „ist Präzisionsarbeit, gerade scheinbar einfache Sachen wie der Pagenkopf verlangen extrem viel Übung.“ Und mit Waschen, Schneiden und Föhnen allein ist es nicht getan. „Eine gute Frisur entsteht aus dem gemeinsamen Gespräch“, sagt sie, „es kommt darauf an, die Wünsche des Kunden mit dem, was von der Haarstruktur her machbar ist, in Einklang zu bringen.“

Vor und mit dem Spiegel

Andere einzubeziehen, Autorschaft zu delegieren zieht sich als Leitmotiv auch durch Gohmerts künstlerische Arbeit. Für ihr Videoprojekt „Stille Post“ wollte sie von sich selbst erzählen, aber aus fremder Perspektive: Das Schreiben des Drehbuchs und die Regie überantwortete sie zwei Kollegen. „Das Prinzip, mich selbst in künstlerisch arrangierten Situationen zu spiegeln, ist wahrscheinlich auch im Salon entstanden“, sagt Gohmert, „Friseure arbeiten den ganzen Tag vor und mit dem Spiegel.“

Dass sie nach drei Jahren das haarige Metier verließ und an die Kunstakademie wechselte, geschah nicht aus Unzufriedenheit. „Mein Drang, eigene Ideen zu gestalten, wurde immer stärker. Als Friseur ist man ja nur Geburtshelfer für die Selbstentwürfe seiner Kunden. Auch die Maskenbildnerei hätte mir wahrscheinlich nicht mehr Freiraum geboten.“ Trotzdem machte sich die frühere Tätigkeit für die Künstlerin bezahlt, in vielerlei Hinsicht. „Während der Ausbildung“, erzählt sie, „gehörte auch Zeichnen zum Programm, weil man beim Skizzieren von Frisuren ein Gespür für Licht, Schatten und Volumen bekommt.“ Bei der Bewerbung an der Kunstakademie nutzte es ihr, dass sie recht versiert im Umgang mit dem Bleistift ist. In diesem Frühjahr kehrte die Künstlerin auch inhaltlich zu ihren biografischen Wurzeln zurück: In einer Ausstellung im Kunstverein der Wagenhallen thematisierte sie Haare als Metapher der Zeit.

Momentan ist Gohmert durch ein Stipendium der Kunststiftung finanziell abgesichert. Gefragt, ob sie sich, falls es ökonomisch einmal enger werden sollte, eine Rückkehr in den alten Job vorstellen könnte, winkt sie nach kurzem Zögern ab: „Friseurin ist ein toller Beruf, aber Künstlerin noch besser.“