Banken vor der Pleite, Staaten vor dem Bankrott: Die Krise, die 2007 begann, hat die EU und das Leben der Menschen verändert. Die Folgen sind noch immer zu spüren. Unsere Serie beleuchtet den Alltag. Heute: Familie Zalewski in Polen.

Warschau - Da kommt jemand zu uns, der spricht genauso Polnisch wie Steffen Möller aus ‚Europa lässt sich mögen‘“, kündigt Rafal Zalewski seiner Frau Aleksandra den Korrespondenten der Stuttgarter Nachrichten an.

 

Steffen Möller ist ein deutscher Kabarettist, der in Polen populär wurde, und „Europa lässt sich mögen“ eine ehemalige Talkshow des Staatsfernsehens – und die aktuelle Einstellung von 88 Prozent der Polen. Dazu gehören auch Rafal Zalewski und Aleksandra Zalewska. Sie gehören zum polnischen Mittelstand. Er ist ein leitender Bankangestellter, sie Lehrerin an einer Grundschule; beide sind 40 Jahre alt. Sie haben drei Söhne und eine Wohnung in einem Gebäude aus den 90er Jahren, gelegen an einer ruhigen Straße im besseren Warschauer Viertel Ursynow. Unweit ist ein Spiel- und Sportplatz zu finden, der Weg zur U-Bahn-Station führt durch einen kleinen Park; einige Plattenbauten aus den sozialistischen Siebzigern führen dazu, dass die Gegend nicht zu idyllisch wirkt.

Zweite Begegnung mit einem EU-Land war sehr positiv

Die beiden jüngeren Kinder, Bartosz (10) und Piotr (7), verziehen sich bald in ihr Spielzimmer. Gespräche über Grenzen, Verträge und Selbstbestimmung interessieren sie verständlicherweise nicht.

Gleich zu Beginn muss Herr Zalewski – in Polen wird bei der Ansprache gemeinhin auf die Vornamen verzichtet und auf die Anrede mit Herr oder Frau großen Wert gelegt – dies los werden: Die zweite Begegnung mit einem EU-Land sei sehr positiv gewesen – „das war eine andere Welt“. In Tübingen lernte er 1999 Deutsch, als Student im Rahmen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes: „Die Internationalität auf der Universität hat mir gut gefallen, alle haben miteinander geredet.“ Das Erlebnis war ein Vorgeschmack auf das Europa, zu welchem wenig später Polen gehören sollte.

Die erste Konfrontation mit dem Westen war weniger positiv. „Ich war vorher in Österreich, dort arbeitete meine Mutter, ein wenig.“ – „Schwarz“, wirft seine Ehefrau ein und lacht, Herr Zalewski stimmt in das Lachen ein. „Ja, wir Polen mussten eben damals zurechtkommen.“ Mit „damals“ sind die 90er Jahre gemeint. Nach der Wende verordnete Polens neuer Finanzminister Leszek Balcerowicz dem Land eine Rosskur. Das fast vollständige Aufheben der staatlichen Kontrolle über Preise und Löhne und der Stopp der bevorzugten Kreditpolitik für Staatsbetriebe führten zwar Ende der 90er zu einem starken Wirtschaftswachstum. In den ersten Jahren litt das Land unter einer Massenarbeitslosigkeit von bis zu 20 Prozent. Dieses Schicksal traf auch die Mutter von Herrn Zalewski. Die gelernte Schneiderin verlor ihre Arbeit in einer Manufaktur für Devotionalien in Tschenstochau.

Wie Mensch zweiter Klasse gefühlt

Durch die Grenzkontrollen fühlte sich der 18-Jährige damals als Mensch zweiter Klasse. Bei der Ausreise untersuchten die österreichischen Zöllner alle jungen polnischen Männer an der Grenze außerhalb des Busses, vor den anderen Reisenden. Heute wäre das nicht mehr vollstellbar: „Im Juni war ich mit den Kindern in Legoland bei Augsburg, und wir merkten nicht mal recht, wann wir die Grenze passiert haben.“

„Selbstverständlich“, so das Ehepaar unisono, haben sie 2003 bei der Abstimmung zum EU-Beitritt mit Ja gestimmt. Die Eltern von Aleksandra Zalewska hatten allerdings Vorbehalte. Sie sind Landwirte in der Woiwodschaft Lodz und fürchteten, von großen Konzernen aufgekauft zu werden. Dann stellte sich aber heraus, dass die Bauern die größten Gewinner des Beitritts sind – die Fläche des landwirtschaftlichen Betriebs umfasst 15 Hektar, davon werden zehn mit 1000 Zloty (243 Euro) pro Jahr und Hektar von der Europäischen Union subventioniert. Zuvor hatten sie keine Ersparnisse und lebten allein von dem, was ihnen die Landwirtschaft einbrachte.

Auch Aleksandra Zalewska erfuhr als Lehrerin ausschließlich den Vorteil. Es gab Finanzierungsprojekte für Spielplätze und Sportanlagen in der Schule. Auch stützten die EU-Fonds die Chancengleichheit der Schüler auf dem Land, die dann zusätzlich Englischunterricht bekamen – abseits der Großstädte. Selbst die Lehrer profitierten: „Ich konnte anderthalb Jahre einen Sprachkurs wahrnehmen, um mein Englisch zu verbessern“, erinnert sie sich.

Die vielen positiven Effekte sind für den Sohn Maciek, er wurde gerade ein paar Monate vor dem Beitritt geboren, eher Alltag. „Es gab mal ein Projekt in der Grundschule, da kam jemand vorbei und hat die EU vorgestellt“, erzählt der Gymnasiast, der Englisch und seit Kurzem auch Deutsch büffelt – ein Studium im Ausland kann er sich vorstellen, aber da ist ja noch Zeit.

Finanzkrise in EU hat kaum zu persönlichen Einschnitten geführt

Auch die große Finanzkrise schnitt in das Leben der Familie Zalewski kaum ein. Polen war in der EU am geringsten von ihr betroffen und verzeichnete weiter ein Wirtschaftswachstum. „Die polnische Aufsichtsbehörde ist restriktiv, und somit sind wir widerstandsfähig, was den Einfluss anderer Banken angeht“, erklärt der Banker, der sich mit Risikokrediten beschäftigt und die Arbeit der Europäischen Zentralbank bemängelt, die nicht wirklich auf die Krise vorbereitet war. Skepsis zur europäischen Bankenpolitik hat Herr Zalewski auch aufgrund der Bürokratie, die ihn mit Papierkram belastet, das Finanzsystem in Europa sei einfach überreguliert.

„Überregulierung“ – auch einer der Vorwürfe, mit dem die nationalkonservative Regierung in Warschau Brüssel konfrontiert. Polens Regierung greift derzeit massiv in das Justizwesen ein, so können seit Mitte August alle leitenden Richter eines ordentlichen Gerichts ohne Begründung ausgetauscht werden. Kritik der EU-Kommission wird von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) als unberechtigte Einmischung gewertet.

Einmischung von außen ist nicht gern gesehen

Herr Zalewski, der sich als Konservativer sieht, demonstrierte zwar Ende Juli gegen die Eingriffe in die Judikative. Polen sollte das aber selbst regeln, glaubt er. Ohne Druck durch die EU oder ein anderes Land, wie etwa Deutschland, dort hätten die Bundesländer und Parlamente ja auch Einfluss auf die Gerichte.

„Ich erwarte mehr Verständnis für die Bedürfnisse Polens. Die eigenen Wurzeln eines Landes in der Geschichte werden in der EU nicht gesehen, es gibt einen zu großen Akzent auf das Gleichmachen“, meint das Familienoberhaupt. Vielleicht ist diese Haltung durch seine Geschichte der Fremdherrschaft geschuldet, dass Polen sehr allergisch auf Vorschriften und Anregungen von außen reagiert.

Diejenigen, die an die Weichsel kommen, müssten sich jedoch den dortigen Regeln unterwerfen. „Wir können uns die Aufnahme von 6000 Flüchtlinge leisten, was die EU von uns fordert“, glaubt Rafal Zalewski. Sie müssten sich jedoch assimilieren, und man sollte sie genau auf einem terroristischen Hintergrund hin untersuchen. Polen will angesichts der terroristischen Anschläge zurzeit keine Asylsuchenden aus Nahost ins Land lassen.

Einen Polexit kann sich Familie Zalewski nicht vorstellen

Wenn auch die Regierung derzeit euroskeptisch agiert – einen Polexit kann sich das Ehepaar nicht vorstellen. Frau Zalewska hörte allerdings von mehreren Bekannten im Viertel, dass diese sich überlegen, auszuwandern – sollten die Freiheiten in Polen weiter beschränkt werden.

Eine Neuauflage der TV-Serie „Europa lässt sich mögen“ aus den Nullerjahren, als polnischsprachige europäische Ausländer ihr Land den Zuschauern auf lockere Art nahebrachten, würde das Ehepaar darum begrüßen. „Man sollte wieder mehr für Europa werben“, sinniert Herr Zalewski.