Der Bezirkskantor Andreas Gräsle arbeitet mit Musikensembles an der Konstanzer Kirche und belebt damit die örtliche Kulturszene. Er fordert bisweilen die Zuhörer auf, ihre Heimat der vertrauten Klänge zu verlassen, um zurückzukehren.

Ditzingen - Bei der Musik sei es wie beim Essen, meint Andreas Gräsle: „Man probiert gerne neue Rezepte aus, aber man freut sich, wenn es Linsen und Spätzle gibt.“ Der Ditzinger Bezirkskantor lockt das schwäbische Publikum auch mal mit ungewöhnlichen musikalischen Darbietungen – zuletzt etwa mit der Vorführung des Stummfilm-Klassikers „Der General“ von Buster Keaton in der Konstanzer Kirche. Er improvisierte an der Orgel, begleitet von seinem Musikerkollegen Dieter Kraus am Saxofon. Dabei ging er an die Grenze des Vertrauten. Denn er, der die Ensembles an der Konstanzer Kirche in Ditzingen verantwortet, weiß, wo das Publikum und die Ensembles der evangelischen Kirche gewöhnlich zu Hause sind: Die Kantorei und somit auch das Instrumentalensemble sind es eher bei Bach. Der Kinderchor hingegen mag zwar die modernen, poppigen Rhythmen, singt aber auch gerne Volkslieder. „Im Märzen der Bauer“ etwa „war bei Kindern uncool, ist es aber immer weniger“, stellt der Familienvater fest. Er ist seit 2003 in Ditzingen tätig.

 

Über die Gründe für die Renaissance der Lieder lässt sich spekulieren. Möglicherweise liege es an der Schönheit der Melodien. Vielleicht trage auch der zeitliche Abstand zum Zweiten Weltkrieg bei, in der das Volkslied zu Propagandazwecken missbraucht worden sei. Womöglich liegt es aber auch daran, dass Musik insgesamt nicht nur das ist, was im Radio läuft: „Singen ist mehr“, sagt Gräsle. Musik und vertraute Klänge seien mehr als das Gehörte, Gespielte, Gesungene. Vertraute Klänge lösten ein Heimatgefühl aus. Das wiederum gebe, was der Mensch in emotionalen Situationen benötige, „um über eine gewisse Schwelle zu kommen“, sagt Gräsle.

„Warum wünschen sich Menschen Musik bei Hochzeiten und Beerdigungen?“, fragt der Kirchenmusiker, der bei der Trauerfeier für den Stuttgarter Alt-OB Manfred Rommel an der Orgel saß. Der mit ihm befreundete Stiftskantor Kay Johannsen steckte damals inmitten von Proben und hatte ihn darum gebeten.

Vertraute Musik gebe Antworten, meist jedenfalls. Werden Hörgewohnheiten verlassen, habe dies dramaturgische Gründe, wie in der Passionszeit. „Warum mal nicht ein Fragezeichen stehen lassen?“ Abgesehen von moderner Musik. Sie zu singen, sei jedoch eine Herausforderungen selbst für große Vocalensemble. Ein Chor müsse die Idee eines Werkes, die hinter den Noten steckt, erkennen und rüberbringen können. „Das kann unbefriedigend sein, wenn man nicht so weit kommt“, sagt Gräsle.

Die Wertschätzung des Alten bedeute nicht, Neues nicht zu respektieren: „Ohne Heimat keine Erkundungstouren“, sagt der 50-Jährige. Aber es müsse der richtige Zeitpunkt gewählt werden. Die Neue Musik sei ein verzweifelter Versuch gewesen, neu anzufangen, so der gebürtige Heilbronner. Das Bestreben war nach dem Ersten Weltkrieg besonders groß. Zerstörung, Veränderung, Aufbruch spiegelten sich in der Musik wider. Das ist aktuell anders, im Vordergrund steht das Wirtschaftswachstum. Der berufstätige Mensch hat verfügbar zu sein: „Im Beliebigen liegt das Unglück“, beobachtet Gräsle. Daher kämen Menschen zurück in die musikalische Heimat.

Aber was ist Heimat? Der Begriff sei schwer zu definieren, weil er für jeden etwas anderes bedeute, sagt Gräsle. Heimat geben auch andere Menschen in einer Gemeinschaft, wie im Chor. Die Chorprobe sei kein Zwang, sondern ein Ritual, das zwar niemals dasselbe, aber immer wiedererkennbar sei. „Man muss einen Chor nicht umkrempeln“, sagt er deshalb auch über seine rund 60 Vokalisten der Kantorei. Er lockt sie wohl das eine oder andere Mal zu anderen Klängen, „aber der Sänger muss es als Bereicherung empfinden“. Zudem muss er das Vertrauen haben, dass der Weg wieder zurück führen wird, zum Vertrauten. Das gilt auch für das Publikum. Die Veranstaltungsreihe „Musik zur Marktzeit“ am Samstagsvormittag sieht Gräsle deshalb einerseits als Marktplatz der Möglichkeiten, um das Publikum zu locken. Andererseits sei die Reihe eine Wertschätzung der örtlichen Kulturszene, die sich nahe Stuttgart behaupten muss.

Doch „wie weit kann man es treiben“? Um diese Frage zu beantworten, bedürfe es der Sensibilität für die Musiker, das Publikum und den Raum. Provokation sei auch eine Form von Kunst, stellt Gräsle klar. „Aber das finde ich nicht nötig.“ Er möchte nicht so weit gehen, wie es Opernregisseure bisweilen tun; Musiker und Zuhörer müssten sich in der Musik, die er in Ditzingen verantwortet, wiederfinden können: „Ich möchte lieber aufbauen als abreißen.“ Wenngleich er auch weiß, dass er beim Improvisieren bisweilen an die Grenzen geht.