Der olympische Gedanke, einst Synonym für den friedlichen und völkerverbindenden Wettbewerb, hat seinen Nimbus (fast) verloren. Politik, Kommerz und Nationalismus mischen viel zu stark mit.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Frieden und Sport, als Einheit viel beschworen, weil: wenn sie rennen, werden sie ja kaum schießen – eine Logik, die selbst IOC-Funktionäre noch rudimentär im Hinterkopf haben. Andererseits muss man nur auf eines der ältesten Zeugnisse der Sportgeschichte schauen, gleich wird stellvertretend gekämpft. Neu aber ist, jenseits der üblichen Schlachtenästhetik, dass der Kampf nicht zum Tode führt. Er funktioniert als Als-ob. Das entsprechende Bild hängt im Athener Nationalmuseum. Es handelt sich um einen Moment, der Mitte des 2. Jahrtausends vor Christus „spielt“: Zwei Knaben, das Kopfhaar partienweise energisch rasiert, dreschen mit dem rechten Fausthandschuh, aber auch mit der linken, bloßen Hand aufeinander ein, hübsch Richtung Kopf.

 

Organisierter ist der Kampf dann schon, wie ihn literarisch Homer im 23. Buch der „Ilias“ schildert, wo Achill zu Ehren des verstorbenen Freundes Patroklos sogenannte Leichenspiele ausrichten lässt. Da macht auch Odysseus mit und wird, untypischerweise ohne Tricks, Sieger im Laufen. Die Göttin bestimmt ihn zum Ersten. Auf die Schilderung des Wagenrennens – Formel 1 hatte seinerzeit bereits die Pole-Position – werden sechsmal mehr Zeilen verwendet, und sie sind hochinteressant. Zum ersten Mal wird manifest, dass der Sport sich zwar gern und gut in hehre Worte kleiden lässt, von Anfang an jedoch auch häufig im betrügerischen Gewand, also tendenziell unfriedlich, auftritt: Nestor, den man für feiner gehalten hätte, bremst Menelaos in einem Hohlweg und mit einem miesen Manöver aus, zu Gunsten seines Sohnes.

Der Erste bekam im Übrigen einen Dreifuß damals und eine hauswirtschaftstaugliche Frau, wie es heißt. Der Historiker Jacob Burckhardt erkennt im Wettbewerb, der in Olympia von 776 v. Chr. zwischen den Kriegen alle vier Jahre als „Gottesfriede“ (Ekecheiria) etabliert wird, jene die griechische Kultur prägende Agonalität: Öffentliche Leistungsschau und Ehrerwerb fallen in eins. 1896 knüpft Pierre de Frédy, Baron de Coubertin, in Athen mit einer revitalisierten olympischen Bewegung daran an, und tatsächlich haben diese ersten Spiele der Neuzeit auch für Historiker noch den Charme eines neuen Anfangs. Es waren, in durchweg friedvoller Atmosphäre damals, so gut wie alle Zufälligkeiten erlaubt, und wenn es einen Iren aus einer Münchner Burschenschaft gerade nach Athen verschlagen hatte und er mit dem Tennisschläger umgehen konnte, dann wurde er halt Olympiasieger.

„Ritterlichkeit“ – ein dehnbarer Begriff

Nach dem Ersten Weltkrieg gibt sich die olympische Bewegung – das Synonym für Frieden und Sport und Frieden durch Sport – in Antwerpen zum ersten Mal eine Art Konstitution, indem sie sich auf „Ritterlichkeit“ einschwört. Ein dehnbarer Begriff. In Paris kommt, vier Jahre später, erstmals die olympische Fahne zum Einsatz, es folgen die Flamme (1928 in Amsterdam) und ein olympisches Dorf (1932 in Los Angeles). Längst jedoch hat der staatliche Nationalismus die Idee fest im Griff. Unheil wittert das Internationale Fair-Play-Komitee 1935 zu Recht, als offenbar wird, worauf die Spiele in Adolf Hitlers Deutschland zusteuern: Das nationalsozialistische Deutschland, heißt es schon 1935, werde die „olympischen Ideale ignorieren“.

Und so geschieht es, trotz der unvermeidlichen Siege des schwarzen Leichtathleten Jesse Owens, dem der „Führer“ – wie anderen afroamerikanischen Sportlern – den Handschlag verweigert. Körperkontakt lehnt indes auch der amerikanische Präsident ab, als Owens in den USA gefeiert wird! Dennoch erzählt Owens’ Geschichte auch eine, vordergründig betrachtet, friedliche Fabel: In der Zeit des Kalten Krieges wird er zum Sonderbotschafter seines Landes ernannt, 1976 endlich erkennt man ihm die Freiheitsmedaille zu.

Unter der Oberfläche des schönen Medaillenscheins und unter dem Lorbeer, errungen im vorgeblich friedlichen Wettkampf, wird im Sport und speziell bei Olympischen Spielen gleichwohl spätestens von 1936 an stets ersatzverhandelt, was gesamtgesellschaftlich an Unruhe und Unfrieden vorhanden ist. Als die Afroamerikaner Tommie Smith und John Carlos als Erster und Dritter beim 200-Meter-Lauf in Mexiko-Stadt 1968 bei der Siegerehrung mit Handschuhen an der erhobenen Black-Power-Faust die Hymne abnehmen (und sich hernach der Silbermedaillengewinner, der weiße Australier Peter Norman, solidarisiert), werden sie von ihren nationalen Verbänden gesperrt. Das IOC rügt „einen schweren Verstoß gegen den olympischen Geist“, der trotzdem immer wieder aufs Neue beschworen wird: nach dem Attentat der Palästinenser in München 1972 und nach dem Boykott der Spiele in Moskau 1980 durch große Teile der westlichen Welt.

Hundert-Stunden-Krieg nach Fußball-Match

Buchstäblich eine Art Stellvertreterkrieg führt 1956 in Melbourne die ungarische Wasserballmannschaft gegen die UdSSR. Gerade ist der Aufstand in Budapest vom angeblichen Brudervolk brutal niedergeschlagen worden, da gehen die jeweiligen Teams mit einiger Gewalt aufeinander los. Immerhin datiert auf Melbourne die schöne Geste zurück, dass die Sportler am Ende der Spiele nicht mehr blockweise im nationalen Verbund einmarschieren, sondern länderübergreifend Hand in Hand eine Runde durchs Stadion drehen. Brüder und Schwestern, zumindest wenn die Wettkämpfe vorbei sind. Das Schöne daran: man hat sich wenigstens nicht umgebracht.

Natürlich aber bleibt es ein brüchiger Friede, den der Sport symbolisch suggeriert – ein Wunder, wenn es nicht so wäre. Verlangt doch der Wettbewerb ziemlich genau jene Tugenden, die in der Industriearbeit und heutigen IT-Welt gefragt sind: Zweckrationalität, Autoritätsdenken und Organisationsfähigkeit bis zur Selbstaufgabe. Erwähnenswert vielleicht auch in diesem Zusammenhang, dass einmal ein Fußballspiel, nämlich das Entscheidungsmatch zur WM-Qualifikation, El Salvador gegen Honduras, ausgetragen 1969 in Mexiko – El Salvador gewann in letzter Sekunde –, zu einem Hundert-Stunden-Krieg geführt hat, in dessen Verlauf zweitausend Menschen starben und 100 000 honduranische Bauern vertrieben wurden.

Und doch.

Und doch ist eine Formel, von der sowohl der Sport wie der Friede lebt. Die Wendung setzt voraus, dass ein Einzelner oder eine Mannschaft gegen Widerstände angeht, innere, äußere, gleichviel. Gegen Trägheit, Gleichgültigkeit, Resignation. Dass Grenzen verschoben werden können und besondere Kräfte freigesetzt werden – und dass dann, wenn alles vorbei ist, was sich so Kampf nennt und hoffentlich einigermaßen fair abgegangen ist, die Hände ausgestreckt werden, wobei das, Gott bewahre, jetzt fast nach Fifa und IOC klingt. Falsch sein muss es nicht.