Die Liebe zum Theater und zu seiner ersten Freundin hatten für Martin Roth einen gemeinsamen Ort: das Kleine Haus. Kurz vor seinem Tod gewährte der Ifa-Präsident Einblicke in seine Vergangenheit.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Treffpunkt ist das Schlossgartenhotel, Ziel der vormittäglichen Exkursion das Kleine Haus der Staatstheater Stuttgart. Martin Roth (62) schreitet, wie es bei seiner Körpergröße von 1,87 Meter wohl gar nicht anders geht, mit großen Schritten energisch, aber doch mit einem flauen Gefühl im Magen – wie er später zugibt – durch den Schlossgarten in Richtung Theater. Eine Exkursion in seine Vergangenheit soll es werden. Es geht um den Schlossgarten als den Ort erster Küsse und das Theater als Raum politischer Sozialisation. „Ich weiß gar nicht, ob es da so viel zu erzählen gibt“, sagt der Ausstellungsmacher zurückhaltend – und sprudelt dann doch vor Erinnerung an seine Jugenderlebnisse. Na, also.

 

Der aus Protest über den Brexit 2016 aus dem Amt geschiedene Direktor des Londoner Victoria-und-Albert-Museum und angehende Präsident des Stuttgarter Instituts für Auslandsbeziehungen (Ifa) fühlt sich in dem Haus der Theatermacher auch vier Jahrzehnte nachdem er es für sich entdeckt hat, spontan noch immer wohl. Über die hintere Pforte und verwinkelte Gänge landen wir im Foyer. Aus dem Theaterinneren dringt leise Musik. Das Ballett probt für die nächste Premiere.

Die Theke im ersten Stock ist neu, jedenfalls so neu, dass es sie in den siebziger Jahren noch nicht gab. Gedanklich sind wir in der Zeit gelandet, als erst Peter Palitzsch und dann ab 1974 Claus Peymann Schauspieldirektoren waren und vor allem Letzterer einen Teil des Publikums durch sein politisches Theater und den Spendenaufruf für Gudrun Ensslin verschreckte.

Gesellschaftskritik im Theater gelernt

Martin Roth sitzt auf einem der Hocker an der Theke und schaut auf die Treppe zum Theatersaal. „Hier hat man auf der Erde gesessen“, sagt er. Er redet von der legendären über vier Stunden dauernden „Faust II“-Inszenierung Peymanns. Das ganze Theater hat der Schauspieldirektor damals bespielt. Der jüngst verstorbene Martin Lüttge spielte den Faust, Branko Samarovski den Mephisto. Roth zuckt mit den Schultern. „An Namen erinnere ich mich nicht“, sagt er. Das Prägende der damaligen Zeit war für ihn die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Gegenwart, die er im Theater wie unter einem Brennglas erlebte. Roths Haare sind über die Jahre grau geworden und kurz geschnitten. Aus dem Suchenden mit den langen wehenden Haaren ist ein arrivierter Intellektueller geworden, für den es wichtig ist, Haltung in politischen Grundsatzfragen zu zeigen. Er ist dorthin zurückgekehrt, wo der Samen dafür gelegt wurde.

Das angenehme Gefühl, das das Kleine Haus, dieses „demokratische Gebäude“ (Roth), durch seine offene Architektur ausstrahle, empfindet er noch immer. Das flaue Gefühl, dass da keine Erinnerungen mehr sein könnten, ist unbegründet. Roth erinnert sich an eine – wenn auch sehr rationale – Theaterleidenschaft, die ihn als Schüler in den siebziger Jahren ergriffen habe. Die Erkenntnis, die er damals gewann, war, dass „Politik nicht etwas ist, was in den Geschichtsbüchern oder in irgendwelchen K-Gruppen, sondern im ganz normalen Alltag stattfindet“. Dazu kam dann freilich noch die erste Liebe zu einer Mitschülerin aus dem Leonberger Albert-Schweitzer-Gymnasium, wohin er aus Gerlingen pendelte. Stuttgart und der Gang ins Theater dort waren für die beiden auch so etwas wie ein Besuch auf neutralem Terrain, wo man nicht beobachtet wurde. Und die Küsse unter Bäumen – Roth deutet auf ein besonders großes Exemplar am Weg zum Theater – gehörten damals dazu. Wenn seine Eltern das geahnt hätten.

Familienausflüge zu Schillers Vater

Denn wahrscheinlich setzte ihn ja das pietistisch geprägte Elternpaar aus Gerlingen auf die entscheidende Spur in seinem Leben, indem es ihm den Weg ins Theater zeigte. Roth ist das einzige Kind einfacher Leute, das gute Startvoraussetzungen bekommen sollte. Der Krieg und seine Folgen prägten das Leben der Eltern. Ihre Ablehnung von Nationalismus und dessen Auswüchsen hat Roth offenbar mit der Muttermilch aufgesogen.

Am Vortag unseres Theaterbesuchs hat er nur einen Steinwurf entfernt im Weißen Saal des Neuen Schlosses über die Verbindung von historischen Gebäuden und Menschen gesprochen. Dabei hat er auch seine Eltern erwähnt. Der Vater Elektriker, die Mutter Weißwäscheschneidermeisterin. Die beiden sind mit Roth in schöner Regelmäßigkeit zu Spaziergängen auf die Solitude aufgebrochen. Und bevor Roth überhaupt wusste, wer „dieser Schiller eigentlich war“, hat er schon gehört: „Bub, guck no, da hot der Vaddr vom Schiller g’schaffd“. Auf der Schillerhöhe oder in den Klosteranlagen Maulbronn und Hirsau endete so mancher Familienausflug. Der Grund war also bereitet für eine gewisse Empfänglichkeit für Kultur.

„Sie hat so selbstverständlich zum Alltag gehört wie der selbst gemachte Apfelsaft“, erinnert sich Roth. Er spürte den Wissensdurst vor allem seiner Mutter – und wurde ebenfalls durstig. Aber anders als die Mutter konnte er seinen Durst stillen. Die Möglichkeiten jedoch, das zu tun, haben ihm die Eltern eröffnet. Der Besuch im Kleinen Haus ist fast die logische Fortsetzung der Rede vom Vortag, will man ergründen, welche Wirkung diese Räume beim Redner selbst entfaltet haben.

Die Eltern haben ihn die Theaterbasics gelehrt

Denn irgendwann ist für Roths Eltern der Zeitpunkt gekommen, dass der Bub auch lernen müsse, „wie Theater funktioniert“. Die Kleinfamilie fährt von Gerlingen mit der Straßenbahnlinie 6 in die Landeshauptstadt. Rausgeputzt im von der Mutter selbst genähten weißen Hemd. Es war nicht das erste Mal, dass der Sohn nach Stuttgart fährt. Aber das erste Mal in Sachen Bildungsmission. „Wahrscheinlich war es ,Der zerbrochene Krug‘ von Heinrich von Kleist, und wahrscheinlich haben sich meine Eltern selbst vorher informiert“, sagt Roth. Auf jeden Fall hatten die beiden begriffen, dass es neben allem kulturellen Beiwerk auch darum geht, dass der Sohn weiß, „wie die Theatertür aufgeht, wie man mit dem Schülerausweis zu seinem Ticket kommt und was ein Sitzplatz und ein Rang ist“. Die Basics eben, an denen man scheitern kann. „Denn es gehört schon etwas dazu, sich in diese kafkaesken Riesenräume zu gehen und sich darin zu bewegen.“

Aus der für ihn enttäuschenden – weil zu zuckersüßen – Inszenierung von Bertolt Brechts „Die letzten Tage der Kommune“ und der ihn in ihren Bann schlagenden subtilen „Galileo Galilei“-Produktion wächst die Überzeugung, dass man um die Ecke denken muss und die Wahrheit besser erzählen könne, wenn man sie nicht direkt sagt. „Diese Überzeugung hat mein Ausstellungskonzept geprägt“ – vom Dresdner Hygienemuseum, der Expo in Hannover, der Dresdner Sammlung bis hin zu den großen Ausstellungen in London am Victoria- und-Albert-Museum. „Diesen Geist hat man hier gespürt“, resümiert Roth und schaut zufrieden in den Schlossgarten.