Jahrzehnte der Zuwanderung haben Spuren in allen Bereichen der Gesellschaft hinterlassen – auch in den Kitas. Einblicke in den Alltag der Sindelfinger Kita Goldberg: Kinder aus 25 Nationen tummeln sich hier.

Sindelfingen - Als Doris Hirsch vor 43 Jahren als Erzieherin in Sindelfingen begann, da gab es in den Kindergärten so gut wie keine Migrantenkinder. „Nun haben 50 Prozent unserer Kinder einen Migrationshintergrund“, berichtet die Leiterin der Sindelfinger Kita Goldberg. Aus 26 Nationen kommen die Kleinen. In 25 Sprachen werden sie und ihre Eltern im Eingang der Kita willkommen geheißen. Ähnliches gelte für die insgesamt 2100 Kinder der 35 städtischen Kitas. „Die Hälfte hat ausländische Wurzeln“, sagt Hirschs Chefin Andrea Ragnit, als Leiterin des Regiebetriebs Kindertagesstätten für sämtliche städtischen Einrichtungen verantwortlich.

 

Anfang der 1980er Jahre holten viele ausländische Beschäftigte, die hier lebten, ihre Kinder nach. „In die Kindergärten kamen türkische und italienische Kinder“, erinnert sich Hirsch. In Sindelfingen bemühte man sich von Anfang an um die Integration. Ursula Fujike, die 34 Jahre lang den Fachbereich Kindertagesstätten leitete, lag das Thema sehr am Herzen. Selbst in einer bikulturellen Ehe lebend und mit Erfahrungen als Sozialpädagogin in den Großstädten Berlin und Hamburg, setzte sie e in den Sindelfinger Kindergärten Standards für die interkulturelle Arbeit.

Erste ausländische Erzieherin kam 1986

„Es gab damals viele Fortbildungen für uns Erzieherinnen, zum Teil gemeinsam mit den Eltern“, erinnert sich Hirsch. In den Kitas wurde gemeinsam gekocht: Gerichte aus aller Welt, bei denen sich die ausländischen Familien einbringen konnten. Auch Hausbesuche der Erzieherinnen bei den Migrantenfamilien seien damals üblich gewesen, sagt Hirsch. Was fehlte, waren Erzieherinnen mit Migrationshintergrund. „Vor allem die Verständigung war manchmal schwierig“, sagt Hirsch. Mit Nese Akkaya kam dann 1986 die erste ausländische Pädagogin in eine Kita. Sie selbst war in der Türkei bei der Großmutter aufgewachsen, während der Rest der Familie in Deutschland lebte. Erst nach dem Abitur mit 18 Jahren kam Nese Akkaya nach, absolvierte in Nordrhein-Westfalen eine Ausbildung zur Erzieherin.

Als sie nach ihrer Heirat nach Sindelfingen zog, wurde sie dort mit offenen Armen empfangen. „Die Stadt wollte mich unbedingt als Erzieherin. Ich konnte mir die Kita sogar aussuchen“. Sie entschied sich für die Einrichtung Klostergarten. Seit 14 Jahren gehört sie zum Team der Kita Goldberg. An ihre Anfangszeit hat Akkaya nur gute Erinnerungen. Als einzige Erzieherin mit Türkisch-Kenntnissen war sie sehr gefragt. Öfters wurde sie zum Dolmetschen auch von anderen Kitas angefordert.

Heute ist vor allem ihr Know-how als Kulturdolmetscherin bei den deutschen Kollegen begehrt. „Manches, was wir nicht verstehen, kann sie uns mit ihrem Hintergrund erklären“, sagt Andrea Ragnit. So habe sie von Akkaya gelernt, dass in türkischen Familien eine mündliche Ansprache viel mehr zähle als eine schriftliche Einladung. „In Deutschland ist es umgekehrt“, sagt Akkaya. Sie legt deshalb Wert darauf, Migrantenfamilien vor Festen noch einmal mündlich auf den Termin hinzuweisen.

Inzwischen hat jeder fünfte pädagogische Mitarbeiter in den Kitas seine Wurzeln im Ausland. „Wir haben einen vietnamesischen Erzieher, Kroatinnen, Türkinnen“, sagt Ragnit. Eine Einschränkung gibt es: Mit Kopftuch darf man in einer städtischen Kita nicht arbeiten. Selbstverständlich sind hingegen Speisezettel, die die unterschiedlichen Essgewohnheiten der Ethnien und Religionen berücksichtigten.

Sprachförderung wichtiger denn je

Doris Hirsch jedoch vermisst „die Nähe der Anfangsjahre zu den Migrantenfamilien“. „Jetzt haben wir die gesellschaftliche Tendenz, dass die Familien – deutsche wie ausländische – nebeneinander her leben.“ Schwieriger als am Anfang sei häufig die Verständigung mit den Müttern. „Die kommen auch in der dritten Zuwanderer-Generation oft durch Heirat hierher.“ Viele sprächen kaum Deutsch und könnten es deshalb nicht an die Kinder weitergeben. Deshalb sei die Sprachförderung in den Kitas nach wie vor ein fester Bestandteil.

Durch neue Projekte wie das kürzlich abgeschlossene „Sindelfinger Märchenbuch“, zu dem Familien unterschiedlicher Herkunft aus der Stadt Sagen und Erzählungen aus ihrer Heimat beisteuerten, versucht Hirsch, die Familien und Kulturen wieder anzunähern. Ihre Erfahrung: „Wenn man auf die Leute zugeht, machen viele breitwillig mit.“

Heute mexikanisch, morgen vietnamesisch lunchen

Wer heute durch die Fußgängerzone einer beliebigen deutschen Stadt bummelt, dem zeigt sich der gesellschaftliche Wandel, den die Zuwanderer gebracht haben, auf den ersten Blick: Es gibt italienische, griechische, indische, mexikanische Restaurants, türkische Döner-Läden und Asia-Shops mit Zutaten für thailändische und vietnamesische Gerichte. „Ein besonders deutlicher Einfluss von Zuwanderung im Alltag zeigt sich im Bereich der Esskultur. Er kann als wichtigster Bereich hinsichtlich einer Annäherung von Einheimischen und Migranten verstanden werden“, heißt es bereits in einer Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge aus dem Jahr 2005.

Geändert hat sich mit diesen neuen gastronomischen und kulinarischen Angeboten auch das Verhalten der deutschen Bevölkerung. „Als ich vor 50 Jahren nach Deutschland kam, da waren wir Italiener die einzigen, die im Eiscafé draußen saßen. Heute sind die Deutschen italienischer als wir Italiener und sitzen sogar im Winter auf den Terrassen der Restaurants“, sagt Bernardino di Croce aus Sindelfingen, ein Gastarbeiter der ersten Stunde.

Positiv wirkt sich laut der bereits zitierten Studie die Zuwanderung auf die wirtschaftliche Situation der Bundesrepublik aus. Obwohl Migranten mehr Sozialleistungen in Anspruch nähmen als Deutsche, seien ihre Einzahlungen ins Steuer- und Sozialversicherungssystem höher als die Entnahmen daraus.

Laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung von 2012 profitieren aber vor allem Metropolen und Ballungsräume im Westen der Republik von der Zuwanderung. Im ländlichen Raum ließen sich nur wenige Migranten nieder. Am höchsten sei der Ausländeranteil in München (23 Prozent), gefolgt von Stuttgart (22,5 Prozent).

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