So einen sympathischen Sonnenschein wie den von Ryan Reynolds gespielten Jerry in einer so heilen Welt hat das Kino lange nicht gezeigt. Aber Obacht, die Regisseurin Marjane Satrapi zeigt in „The Voices“ nur die Illusionen und Selbsttäuschungen eines Serienmörders.

Stuttgart - Etwas stimmt nicht mit Jerry Hickfang (Ryan Reynolds). Nicht, dass der neue Mitarbeiter in der Milton-Badewannenfabrik unsympathisch wäre. Es ist auch keine große Sache für Jerrys Chef, dass der Mann gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Jeder macht mal Fehler. Doch Jerrys überschwängliche Höflichkeit, sein Enthusiasmus bei der Arbeit und die penetrant zur Schau gestellte gute Laune befremden die Kollegen.

 

Jerry selbst fühlt sich pudelwohl. Er darf einen schicken, pinkfarbenen Overall tragen, und die leichte Arbeit in der Verpackungsstation geht flott von der Hand. Außerdem freut er sich auf die kurzen Begegnungen mit Fiona (Gemma Arterton), die in der Buchhaltung arbeitet.

So konsequent wie „Dexter“

In Marjane Satrapis Spielfilm „The Voices“ ist alles eine Frage der Perspektive. Die von Jerry Hickfang weicht, vorsichtig ausgedrückt, ein wenig von der Norm ab. Und es gehört durchaus Mut dazu, sich in ihn hineinzuversetzen. Denn Satrapi, bekannt als Autorin der Graphic Novels „Persepolis“ und „Huhn mit Pflaumen“ sowie als Regisseurin von deren Verfilmungen, schaut in ihrer vierten Regiearbeit in den Kopf eines Serienmörders.

Dessen Weltsicht ist allerdings nicht von blutrünstigen, menschenverachtenden Gedanken bestimmt, sondern leuchtet in den schönsten Farben. Dieser Ansatz des Drehbuchautors Michael R. Perry und der Regisseurin Marjane Satrapi ist ungewöhnlich. Während ein Großteil thematisch ähnlich gelagerter Filme, zum Beispiel John McNaughtons „Henry: Portrait of a Serial Killer“ (1986), die Figur des Killers wie zum Schutz der Zuschauer aus sicherer Distanz und mit grimmigem Blick betrachten, schildern Perry und Satrapi die Welt ihres mordenden Protagonisten fast völlig aus dessen subjektiver Wahrnehmung heraus.

So konsequent gab es das bisher nur in  der amerikanischen TV-Serie „Dexter“ (2006–2013), in der ein Forensiker ein Doppelleben als Mörder führt. Anders als Dexter Morgan ist Jerry in „The Voices“ jedoch kein abgeklärter, kühl kalkulierender Mensch, der sich Gefühlsregungen hart erarbeiten muss, sondern das Opfer seiner verschobenen Wahrnehmung sowie unkontrollierbar aufwallender Emotionen.

Jerry biegt sich die Welt zurecht

Warum der äußerlich adrette Bursche einsaß, erfahren wir nicht. Aufgrund zunächst nicht näher benannter seelischer Probleme steht Jerry unter Beobachtung der vom Gericht bestellten Psychiaterin Dr. Warren (Jacki Weaver), kann sich aber völlig frei bewegen. So schlimm kann sein Vergehen also nicht gewesen sein, denkt man, und tappt der in fröhlichem Ton gehaltenen Erzählung arglos in die Falle.

Jerrys kleines Apartment über einer alten Bowlingbahn aus den fünfziger Jahren ist für ihn ein gemütliches, mit nostalgischen Souvenirs eingerichtetes Refugium und nicht, wie der objektive Blick von außen einmal offenbart, ein versifftes, vor Schimmel, getrockneten Blutlachen und Dreck starrendes Loch.

Engel und Schmetterlinge

Auch dass ihm Fiona in einer Mischung aus Skepsis und amüsierter Herablassung begegnet, interpretiert er völlig falsch als Schüchternheit. Anhand surrealer Details in den Bildern zeigt Satrapi, wie Jerry sich die Welt zurechtbiegt und die gewöhnliche Büroangestellte zur Ikone überhöht. Mal umflattern bunte Schmetterlinge die Silhouette der drallen Frau, mal sieht Jerry sie als erotische Engelsgestalt mit in Zeitlupe wehendem Haar.

Insgeheim weiß Jerry, dass er die Welt, wie er sie sieht, so nicht sehen darf. Doch sobald er Dr. Warrens Pillen schluckt, verschwinden die Schmetterlinge. Und seine Tiere, der übellaunige Kater Mr. Whiskers und der sanftmütige Hund Bosco, mit denen er sich jeden Abend unterhält, werden plötzlich stumm.

Wenn das Kartenhaus fällt

Was der Verlust dieser schöneren Alltagsversion für den einsamen, psychisch deformierten Mann bedeutet, macht Marjane Satrapi erfahrbar. Trotzdem gibt sie dem Zuschauer die Chance, sich von der Figur des Killers zu distanzieren, indem sie dessen Geschichte als überzeichnete, haarsträubend komische, dabei oft makabre Farce anlegt.

So rührend Jerrys Versuche auch sind, sich mittels der eigenen Fantasie eine putzige Parallelrealität zusammenzubasteln, so groß ist der Horror, wenn sein Trugbild wie ein Kartenhaus zusammenfällt. In Jerrys Haut möchte man nicht stecken, genauso wenig in der Haut derjenigen, die über ihn ein Urteil fällen müssen.

The Voices. USA, Deutschland 2014. Regie: Marjane Satrapi. Mit Ryan Reynolds, Gemma Arterton, Anna Kendrick, Gulliver McGrath, Paul Brightwell, Jacki Weaver. 109 Minuten. Ab 16 Jahren.