In einem alten Haus warten wunderliche Schlüssel auf Entdecker: In der Netflix-Serie „Locke & Key“ begegnen drei Geschwister magischen Mächten und irdischen Schulproblemen.

Stuttgart - In alten Wohnungen und Häusern findet man sie stets in Schränken, Schubladen, Kelleregalen: einzelne Schlüssel, Schlüsselringe, ganze Einmachgläser voller Schlüssel, oft rostige, manchmal kurios geformte Öffner, für die weit und breit kein Schloss in Sicht ist. Die bislang überzeugendste Vermutung der Wissenschaft für dieses Phänomen: Es gibt eine Augen und Messinstrumenten verborgene Astralebene, auf der all die spurlos verschwundenen Einzelsocken aus unseren Waschmaschinen in alte Schlüssel umgewandelt und dann in fremde Häuser teleportiert werden.

 

Auch Familie Locke bekommt es mit der wunderlichen Schlüsselvielfalt in einer betagten Immobilie zu tun. Aber in der neuen Netflix-Serie „Locke & Key“ geht es nicht um die Frage, ob einer der alten Bärte nun mit ein wenig Öl die Speisekammertür im zweiten Stock wieder abschließen könnte oder ob er doch besser zu einem Nebenraum des Kellers passt.

Macht über andere

Die Schlüssel hier liegen versteckt. Sie beginnen zu flüstern, wenn sie gefunden werden wollen, und die individuell gestalteten Wunderwerke sind für anderes als simple Auf-Zu-Aufgaben geschaffen worden. Es sind magische Schlüssel, die ihren Benutzern Großartiges spendieren: den Schritt durch die nächste Tür an einen beliebigen Ort der Welt, den Eintritt ins Innere eines Kopfes, Marionettenspielermacht über einen anderen Menschen oder eine zeitweilige Todeserfahrung, bei der man den eigenen Körper als umherschwebender Geist verlassen und vielleicht sogar mit einem Gespenst kommunizieren kann – falls man einen Zaudernden trifft, der nicht ins Jenseits weiterziehen mag.

Die Lockes – Mutter Nina (Darby Stanchfield), die Tochter Kinsey (Emilia Jones) sowie die Söhne Tyler (Connor Jessup) und Bode (Jackson Robert Scott) – ziehen quer durchs Land in den alten Familiensitz von Ninas Mann Rendell (Bill Heck) um. Rendell, ein engagierter Lehrer, ist von einem seiner Schüler ermordet worden. Die Lockes haben mit ihrer eigenen Erschütterung genug zu tun. Sie wollen nicht dauernd von allen anderen als traumatisierte Opfer behandelt werden.

Das Wesen im Brunnen

Dass sie im kleinen Kaff Matheson, wo jeder Rendell und dessen Verwandtschaft kannte, die Lockes kannte, diesem Blick garantiert nicht entkommen, geht ihnen erst auf, als sie schon ins Key House eingezogen sind, in einen üppig verwinkelten, selbstbewusst finsteren Prunkbau von einst, ein Musterbeispiel für die Zimmermannsgotik, wie Amerikaner den Baustil dieser hölzernen Gruselburgen nennen. Aber bald entdecken die Kinder die ersten Schlüssel, finden heraus, dass Erwachsene diese Magie zwar bemerken können, aber sie sofort wieder vergessen müssen.

Die Bahn wäre frei, sich von Schulproblemen und ersten Beziehungskrisen bei übersinnlichen Kurztrips zu erholen: säße da im Brunnen des Hauses nicht ein Wesen, das sich anfangs als wohlwollendes Echo ausgibt, dann aber schnell alle Bosheit eines rachesüchtigen Albtraumdämons offenbart.

Vorlage von Stephen Kings Sohn

„Locke & Key“ basiert auf einer exzellenten, mehrteiligen Graphic Novel, die Joe Hill („NOS4A2“) 2007 geschrieben hat, Stephen Kings Sohn, der viele der Qualitäten seines Vaters geerbt hat, ohne dessen Hang zum Ausufernden zu verfallen. Die Serie ist weniger herb als die Vorlage, sie wirkt ein wenig konventioneller und kalkulierter in der Art, wie sie das Teenie-Thema „Außenseiter an der neuen Schule“ mit den Fantastik-Motiven „Böses hockt im Haus“ und „Laien bekommen Zaubermacht“ mixt. Das kann aber auch daran liegen, dass Netflix fast im Wochentakt Serienstaffeln startet, deren fantastische Elemente im Torf des Teeniedramas keimen müssen: „Chillin’ Adventures of Sabrina“, „Ragnarök“, „Titans“, „October Faction“. Aber „Locke & Key“ nimmt seine Figuren ernster und behält einen engeren Spukhaus-Fokus.

Trotzdem, man merkt, dass mit Carlton Cuse ein Serien-Profi als Showrunner am Werk war. Cuse war an „Lost“, „The Returned“, „Bates Motel“, „The Strain“, „Colony“ und „Jack Ryan“ beteiligt, das heißt zum Guten wie zum Bösen: Er weiß, wie’s geht. Wo der Comic immer wieder das Besondere bietet, uns ein wenig den Boden unter den Füßen verlieren lässt, bietet die Serie sorgfältig inszenierte, schön ausgestattete, nie hingerotzte Routine. Wie viele ihrer Konkurrenten irritiert sie mit einem unsensiblen Grundzug: Ihre Figuren nehmen das Fantastische als selbstverständliches neues Detail ihrer Leben an, als sei es bloß eine neue Eisdiele in der Stadt.