Serkan Eren hilft Flüchtlingen Ein Stuttgarter, der nicht wegsehen kann
Der schwäbisch-türkische Tausendsassa Serkan Eren ist Gründer und Gesicht der Stuttgarter Hilfsorganisation Stelp. Porträt eines Mannes, der von einer besseren Welt träumt.
Der schwäbisch-türkische Tausendsassa Serkan Eren ist Gründer und Gesicht der Stuttgarter Hilfsorganisation Stelp. Porträt eines Mannes, der von einer besseren Welt träumt.
Stuttgart - Es sind vor allem die Nächte, in denen sich die Erinnerungen vor ihm auftürmen wie Monsterwellen. Manche Bilder wird Serkan Eren nicht mehr los. Zu viel hat er gesehen in den vergangenen Jahren, zu viele Geschichten gehört, die ihn schaudern ließen. Er hat mit Kindern gesprochen, deren Eltern vor ihren Augen ermordet wurden. Er hat Menschen getroffen, die vor Kälte am ganzen Körper zitterten. Er hat die Hoffnungslosigkeit in den Augen vieler Geflüchteter gesehen, die vor Krieg und Terror davonliefen und nun in einem fremden Land traumatisiert nach einer Perspektive suchen. „Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal ruhig geschlafen habe.“
Der 36-Jährige hat eine Mission: Kein Mensch auf der Welt soll frieren oder hungern. Also begann er vor sechs Jahren, mit einem Freund Spenden zu sammeln, und steuerte einen Transporter voller Decken und Kleider über den Balkan bis ins griechische Idomeni. Dort harrten seinerzeit 10 000 Geflüchtete in einem Lager aus, das eigentlich für 1500 geplant war. Auch diese Bilder haben sich bei Serkan Eren eingebrannt und ihm die Erkenntnis gebracht, dass es „keinen Superman braucht, um zu helfen“. Einfach machen.
Ein halbes Jahr später gründete Eren in Stuttgart die Hilfsorganisation Stelp. Viele in der Stadt kennen heute seinen Namen. Mehr noch: Eren ist nicht nur Gründer und Geschäftsführer des Vereins, er ist das Gesicht von Stelp. Und, für ihn wichtiger: Er gibt Bedürftigen ein Gesicht.
Februar 2021. Das Gespräch mit Eren darüber, wie er der Mensch geworden ist, der er ist, findet bei einem Spaziergang im Botnanger Wald statt. Es schneit pausenlos an diesem Morgen, das Thermometer zeigt null Grad. Die langsam wachsende Schneedecke dämpft die Geräusche der Natur. Eren, grauer Kapuzenpulli unter der schwarzen Jacke, weiße Sneaker, keine Mütze, stapft den Waldweg entlang, die Hände in den Jackentaschen vergraben. „Kalte Füße bin ich gewohnt“, sagt er. Richtig freuen kann er sich nicht über die weiße Pracht. „Ich denke an die Menschen, die bei Minustemperaturen draußen überleben müssen.“ Unter seinen Augen zeichnen sich Schatten ab. Er hat wieder eine unruhige Nacht hinter sich.
Eren hat den Anspruch, rund um die Uhr für die Freiwilligen erreichbar zu sein, die für Stelp auf drei Kontinenten unterwegs sind. Alle drei, vier Wochen macht er sich selbst auf den Weg ins Ausland. Vor wenigen Wochen hat er in Bosnien Flüchtlinge mit Lebensmitteln, Kleidung, Decken und Schlafsäcken versorgt. Es gibt Projekte in Nepal, Gaza, im Jemen, in der Türkei, in Griechenland und auf den Philippinen. Seit Kurzem engagiert sich Stelp auch in Uganda. Die Reisen zehren an ihm. Oft übernachtet er auf Flughäfen oder in billigen Pensionen, erzählt er. Und er sagt auch: „Vor fünf Jahren war ich mental und physisch gesünder. Aber den Preis bezahle ich gerne.“
Vor fünf Jahren war Eren Fachlehrer an der Stuttgarter Merzschule – er ist Sportpädagoge. Seit drei Jahren arbeitet er Vollzeit für Stelp. Eren konnte noch nie wegsehen. Schon als Kind in der Schule habe er sich für die Schwächeren eingesetzt. Er war ja selber einer, der einstecken musste. „Ich hatte immer eine starke Persönlichkeit, aber ich weiß aus eigener Erfahrung, wie es ist, der Schwache zu sein. Ich bin in Armut groß geworden.“
Serkan Eren wächst in Villingen-Schwenningen auf. 86 000 Einwohner. Pittoreske Altstadt am Rande des Mittleren Schwarzwaldes. Das Kinderzimmer teilt er mit dem älteren Bruder und der jüngeren Schwester. Die Kindheit verbringt er beim Vater in einem dieser uniformen Wohnblöcke. Gewalt ist in der Gegend nichts Außergewöhnliches. Urlaub kennt Serkan nur vom Hören-Sagen. Wenn die Familie verreist, dann zur Verwandtschaft im türkischen Izmit. Geburtstagsgeschenke gibt es selten. Der Vater malocht, um alle satt zu bekommen. Die Geschwister sind tagsüber auf sich allein gestellt. Wollen sie Abenteuer erleben, radeln sie in den Wald, bauen Hütten aus Ästen und Blättern.
Serkans Lichtblick in dieser Zeit heißt Christiane. Sie ist Hausfrau und Mutter, eine, die das Herz am rechten Fleck hat. Jeden Tag geht Serkan ein Stockwerk tiefer zu Christiane und ihrer Familie. Er darf Weihnachten mit ihnen feiern, und immer wartet ein Teller Nudeln auf ihn. „Sie zeigte mir, dass es da draußen Menschen gibt, denen dieser kleine arme türkische Junge nicht egal ist.“
Serkan Eren ist 13 Jahre alt, als er zur Mutter nach Kehl am Rhein umzieht. Dort macht er seinen Schulabschluss. Fürs Leben aber lernt er zu Hause, wo er häufig auf Menschen trifft, die Leid erlebt haben. Seine Mutter, die unter anderem als Dolmetscherin arbeitet, engagiert sich für das örtliche Frauenhaus. Immer wieder lässt sie Frauen, die vor ihren prügelnden Männern geflohen sind, vorübergehend bei sich wohnen.
Die Ausbildung an der Sportakademie führt Serkan Eren nach Stuttgart. Nach seinem Abschluss macht er sich als Personal Trainer selbstständig. Seine Kunden: Eiskunstläuferinnen, Piloten, gut situierte Hausfrauen. „Das war mein Lebensinhalt“, sagt er. Ein Lebemann sei er gewesen. Einer, der weiß, wie man feiert. Einer, der jeden Moment genießen kann.
Am 14. Juli 2009 – Eren ist damals 25 Jahre alt – bekommt er zu spüren, dass das Leben endlich ist. Eren ist mit seiner damaligen Freundin auf der Autobahn unterwegs. Er lässt sich vom Radio ablenken, „höchstens zwei Sekunden“, rast ungebremst in einen Lkw. Die Freundin kommt mit einem lädierten Arm davon. Eren wird eingeklemmt und sieht Blut. Viel Blut. Die Schmerzen kommen erst später, als er im Rettungshubschrauber liegt. Er riecht verbrannte Haut, bekommt schlecht Luft. In diesem Moment weiß er noch nicht, dass vier Rippen gebrochen sind, dass sich eine durch die Aorta gebohrt hat. Als er zu röcheln beginnt, gerät er in Panik. „Verrückt, du stirbst jetzt. Das war’s.“ In Endlosschleife schießen die Gedanken durch seinen Kopf.
Dann bleibt sein Herz stehen. 60 Sekunden lang. Für Eren ist in dem Moment alles gut. Keine Schmerzen mehr, keine Angst. Er erinnert sich an ein Gefühl der Schwerelosigkeit und an ein sehr helles Licht. Er fühlt sich geborgen, geliebt, am richtigen Ort. „Ich weiß, dass das esoterisch klingt, aber genauso war es. Ich wäre am liebsten dort geblieben.“ Die Ärzte holen ihn zurück. Seitdem hat Eren keine Angst mehr vor dem Tod, weil er sicher ist: „Es ist nicht alles vorbei.“
Das Nahtoderlebnis macht etwas mit ihm. Eren wird risikofreudiger und rastloser, aber auch nachdenklicher, tiefgründiger. Weil sein Herz geschwächt ist, muss er seinen Job als Personal Trainer aufgeben, wird hauptberuflich Lehrer. Sechs Jahre später, noch während er an der Merzschule unterrichtet, gründet er Stelp.
Knapp eine Million Euro seien bis heute an Spendengeldern zusammengekommen, erzählt er. 250 Volontäre waren im Einsatz, Stelp engagiert sich in zehn Ländern, oft gemeinsam mit anderen Initiativen. Dass der Stuttgarter Verein viele Unterstützer findet, ist vor allem Erens Talent zu verdanken, Menschen für die gute Sache zu begeistern. „Ich schaffe es, Leute ins Boot zu holen. Da gibt es kein Schema oder einen Plan. Ich glaube, es liegt daran, dass ich authentisch bin.“
Regelmäßig taucht Eren mit Promis an seiner Seite in den Medien auf. Zu seinen engsten Freunden zählen der Ex-VfB-Torwart Timo Hildebrand, der zum Stelp-Vorstand gehört, und der Rapper Max Herre. Mit Kevin Kurányi kickte Eren bei einem Benefiz-Fußballturnier, mit der Schauspielerin Katja Riemann half er Flüchtlingen in Bosnien. Auch Angela Merkel hätte Eren 2020 treffen sollen – sie lud ihn ins Kanzleramt ein, nachdem Stelp ein Stipendium erhalten hatte. Doch Corona ließ den Termin platzen.
Eren ist kreativ, wenn es darum geht, Aufmerksamkeit zu erregen. Mit dem Fernsehkoch Frank Öhler und Timo Hildebrand kochte er ein Fünfgänge-Menü vor laufender Kamera. 2019 veranstaltete er in Cannstatt eine Spendengala, auf der sich etliche Promis tummelten und die Stelp mehr als 100 000 Euro einbrachte. Das nächste große Ding steht bereits in den Startlöchern: In der Stuttgarter Katharinenstraße wird Stelp die Non-Profit-Bar „Natan“ betreiben. Eren erzählt, dass sich bereits mehr als 50 Ehrenamtliche gemeldet hätten, um mitzuhelfen.
Erfolge sind freilich nur die eine Seite der Medaille. Eren weiß, dass Helfen auch gefährlich sein kann. Als eine Explosion im Beiruter Hafen die Stadt verwüstet, ist er vor Ort, weil er Hilfsprojekte im Libanon auf den Weg bringen möchte. „Seitdem kann ich keine Sirenen mehr hören. Noch immer geht es mir schlecht, wenn ich nur darüber rede.“
In Griechenland wird er verhaftet, nachdem er in einem Flüchtlingscamp Kinderschuhe verteilt hat. Er weiß nicht, ob man ihn zwei Wochen oder fünf Jahre wegsperren wird. „Man warf uns vor, dass wir ohne Erlaubnis eine militärische Sperrzone im Ausnahmezustand betreten hatten. In meinen Augen war das reine Willkür und Psychoterror.“ Eren wird nicht eingesperrt, schon am nächsten Tag sitzt er im Flieger zurück nach Stuttgart.
Die Tatsache, dass er regelmäßig bedroht wird, seit er Flüchtlingen hilft, wischt er mit einer Handbewegung weg. „Wichtigtuer.“ Hasskommentare in den sozialen Medien gibt es schon lange. Morddrohungen in seinem Briefkasten sind neu. Trotzdem bezeichnet Eren das, was er macht, als „den besten Job der Welt“. An dieser Stelle erzählt er gerne die Geschichte zweier fünf- und sechsjähriger Geschwister in einem türkischen Flüchtlingscamp, denen er Seifenblasen geschenkt hatte. „Dank dir, wissen wir jetzt, dass es ja doch nicht nur böse Menschen auf der Welt gibt“, hätten die Kinder zu ihm gesagt. „Das Weltbild dieser Kinder verändert zu haben ist ein Wahnsinnsgefühl. Unbezahlbar.“ Eren sagt, er wolle eigentlich gar nicht so pathetisch klingen. Er checkt sein Handy, auf dem inzwischen viele Nachrichten eingegangen sind. Am nächsten Tag wird er nach Bosnien reisen.