Berlin gilt als Hauptstadt der sexuellen Freizügigkeit. Hier gibt es Dinge, die es wahrscheinlich nirgendwo anders gibt. Porno-Karaoke zum Beispiel.
Berlin - Berlin, sagt Tim, sei gar nicht arm, aber sexy. Orte, an denen man Gleichgesinnte finden könne, gäbe es hier schließlich genug. Das Insomnia zum Beispiel, ein Nachtclub, in dem Menschen verkehren, die Sex in allen Variationen suchen. Swinger. Fetisch. Bondage. Sado-Maso. Queer. Das volle Programm.
Hier steht Tim (37), verheiratet, zwei kleine Kinder, an einem Freitagabend an der Theke und nippt an einem Mojito. Heute nacht steigt die Poly-Party. Poly ist die Abkürzung für Polyamorie. Menschen, die mehr als nur einen Menschen lieben, feiern ihre sexuelle Freiheit und ein bisschen auch sich selber. Aber weil diese Polyamorie noch ein exotisches Pflänzchen ist, sogar in Berlin, gibt es vorher einen Info-Abend. Ein Tantra-Lehrer, ein Polyamorie-Forscher und eine feministische Künstlerin erzählen, warum dieser Lebensentwurf für sie der einzig richtige ist.
Rund 200 Besucher haben sich versammelt. Lauter Leute, die aussehen, als hätten sie sich für die Love Parade verkleidet. Von der Studentin mit Hut und Strapsen bis zur Rentnerin in durchsichtiger Bluse. Es hat etwas Konspiratives, wie sie sich da auf roten Lederliegen lümmeln und den Referenten lauschen. In diesem Loft mit seiner Liebesschaukel an der Decke verhallt ihre Botschaft nicht ungehört: Die Welt ist im 19. Jahrhundert stehengeblieben. Aber wir zeigen euch, wie die Zukunft der Liebe aussieht.
Menschen, die erotische Abwechslung suchen, hat Berlin schon immer angezogen
Berlin, das Sex-Utopia? Wo man in Swingerclubs den Partner tauscht, wo Fesselspiele (Bondage) angesagt sind und die Teilnehmer von Queerpartys vergessen, ob sie Männchen oder Weibchen sind? Menschen, die erotische Abwechslung suchen, hat die Hauptstadt schon immer angezogen. In den Goldenen Zwanzigern galt Berlin als sündigste Metropole Europas. Hier manifestierte sich das Lebensgefühl der Jugend. Der Krieg war gestern, jetzt wurde gefeiert. Mit dem Muff der Kaiserzeit streiften die Menschen auch ihre Hemmungen ab. In Revue-Theatern ließen Tänzerinnen die Hüllen fallen. Schwule und Lesben knutschten öffentlich. Partys arteten in Orgien aus.
Daran muss man jetzt denken, wenn man durch das versexte Berlin spaziert. Auch heute gibt es hier wieder Dinge, die es wahrscheinlich nirgendwo anders gibt. Porno-Karaoke zum Beispiel. Jeden ersten Samstag im Monat dringen spitze Schreie aus einem Club am Prenzlauer Berg. Über eine Leinwand flimmern schlechtgemachte Pornos aus den 70ern. Der Ton ist abgestellt und Freiwillige aus dem Publikum denken sich Dialoge zu den Filmszenen aus. Es sind überwiegend Frauen, die diesen Part übernehmen. Noch eine Runde Schnaps und das Karaoke geht wie von allein.
Die Frauen nehmen sich, was sie brauchen
Überhaupt die Frauen. Sie nehmen sich, was ihnen Spaß macht. Zum Beispiel den Womanizer. Das ist der neue Renner auf dem Markt der Sexspielzeuge. 2015 von einem bayrischen Tüftler entwickelt, soll laut Werbung schon eine Millionen Exemplare verkauft worden sein. Orgasmus-Garantie angeblich 99,9 Prozent. An einem trüben Wochenende konnten Frauen den Vibrator in einem Berliner Pop-up-Store ausprobieren. Der Hersteller hat seine Räume in Berlin-Mitte, in dem Haus, in dem die Kanzlerin wohnt. 200 Frauen, Junge und Alte, standen an zwei Tagen vor einer schalldichten Kabine Schlange. Ditt is Berlin.
Auch das Programm im Insomnia ist typisch für die Stadt. Neben dem KitKatClub und dem Berghain ist es der berüchtigtste Club in Berlin. Dominique (49), 1,90 Meter groß, blonde Kim-Wilde-Mähne, knallroter Lippenstift, verrauchte Stimme, hat ihn 2006 gegründet. Er liegt an einer vierspurigen Straße in Tempelhof, versteckt neben einer Spielhölle. Eine Lasterhöhle, sagen die einen. Ein Ort, um zu wachsen und neue Spielarten der Liebe auszuprobieren, sagt Dominique.
Die Generation Porno ist auf der Suche nach Gefühl
Sie kennt die Szene so gut wie kaum eine andere, schließlich hat sie schon vor der Wende Deutschlands erste Domina-Schule betrieben – zusammen mit ihrer Mutter. „Sex ist mehr als nur das Rein-Raus-Spiel“, sagt sie. Der Lustgewinn als reiner Selbstzweck, das sei gestern gewesen. Menschen, die sich in Lack und Leder kleideten, um ihrem Fetisch zu frönen, seien ein Klischee.
Die Generation, die jetzt heranwachse, sei eine andere. „Das sind so bunte Typen, die tragen Glitzer im Gesicht und schlecht sitzende Hosen.“ Sie seien mit dem Internet aufgewachsen. Sie hätten ihren ersten Porno gesehen, bevor sie das erste Mal Sex hatten. Das habe ihr Verhältnis zur Sexualität geprägt. Dominque spricht von einem „Überangebot von pornografischen Eindrücken.“ Und von einem unerträglichen Leistungsdruck. Sie sagt: „Das ist die Generation Porno. Die sucht das Gefühl.“
Aber finden die jungen Leute das ausgerechnet in den Lehrfilmen, die Dominique gedreht hat, um sie aufzuklären: Dominiques Fuck Academy? Oder in den Orgien und Bondage-Workshops, veranstaltet von dem Verein, den sie gegründet hat? Wer beim Sex frei ist, kann auch frei denken, lautet ihr Credo. Offenbar manchmal leichter gesagt, als getan. Tim im Insomnia gesteht, seine Kinder dürften nichts wissen, dass er hier ist. Die Generation Porno, sie hat auch eine Schamgrenze.