Einer neuen Studie zufolge hat jeder zweite Student in Australien schon einmal sexuelle Belästigung erlebt. In Deutschland sieht die Lage ähnlich aus. Dennoch wenden sich nur die wenigsten Betroffenen an die zuständigen Ansprechpartner an der Universität.
Sydney / Stuttgart - An Australiens Universitäten ist nach einer neuen Umfrage allein im vergangenen Jahr mehr als die Hälfte der Studenten Opfer von sexueller Belästigung geworden. In einer repräsentativen Erhebung für Australiens Menschenrechtskommission (AHRC) gaben 51 Prozent an, mindestens einmal sexuell belästigt geworden zu sein. Bei Studentinnen ist die Gefahr demnach doppelt so groß wie bei männlichen Studenten. Befragt wurden etwa 30 000 Studenten.
Der Studie zufolge kommt sexuelle Belästigung sowohl in den Hörsälen als auch auf dem Campus, bei Festen oder in Wohnheimen vor. „In überwältigender Zahl sind die Täter Männer“, heißt es darin. Oft kennen sich Täter und Opfer bereits.
„An der Situation hat sich wenig geändert“
Ganz ähnlich wie in Australien ergeht es Studenten in Deutschland. Nach einer Studie aus dem Jahr 2012 wird jede zweite junge Frau hierzulande während ihres Studiums sexuell belästigt – verbal oder tätlich. „An der Situation hat sich seither eigentlich wenig geändert“, sagt Katrin List, Koordinatorin der Studie an der Ruhr-Universität Bochum. In der Untersuchung stellte die Soziologin fest, dass sexuelle Gewalt im strafrechtlichen Sinne – also sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung – an Hochschulen zwar weniger häufig vorkomme als in der Gesamtbevölkerung: So gaben nur 3,3 Prozent der befragten Studentinnen an, während ihres Studiums erzwungene sexuelle Handlungen erlebt zu haben. Sexuelle Belästigung dagegen kommt der Studie zufolge auf dem Campus umfänglicher vor als in anderen gesellschaftlichen Bereichen.
Doch was zählt eigentlich unter den Begriff sexuelle Belästigung? „Das fängt an mit sexueller Anmache, das kann sein, dass man pornografische Bilder verschickt, das kann sein, dass man auch anfasst, das kann die unterschiedlichsten Formen haben“, sagt Christine Lüders, die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes gegenüber dem Deutschlandfunk. „Alles, was in diese sexuell belästigende Richtung geht und unerwünscht ist, ist eine sexuelle Belästigung.“ Und dagegen müsse man etwas unternehmen.
Das Problem dabei: Belästigung, Stalking und sexuelle Gewalt finden meist dort statt, wo die Studentinnen sie nicht vermuten. Also nicht auf dem dunklen Parkplatz oder im Gebüsch, sondern in der eigenen oder in einer fremden Wohnung. „Campusleben und Alltagsleben lassen sich nicht so einfach trennen“, sagt Katrin List. „Im sozialen Nahbereich passiert sexuelle Gewalt oder Belästigung öfter als mit Fremden.“
Am Ende steht oft Wort gegen Wort
Die Betroffenen, sagt sie, würden sich nur selten an die Ansprechpartner an der Universität wenden. Einerseits, da sie – wie die australischen Studenten und Studentinnen – häufig nicht genau wissen, an wen sie sich wenden können. Andererseits aber auch, weil in unserer Gesellschaft noch immer bestimmte Vorstellungen darüber vorherrschen, was sexuelle Gewalt überhaupt ist. In den Köpfen würde sich diese meist mit Fremden abspielen. „Gerade, wenn es sich bei dem Täter um einen Kommilitonen oder den Ex-Freund handelt, versuchen Studentinnen deshalb oft, dessen Verhalten zu relativieren“, erklärt Katrin List. „Sie fragen sich, welchen Teil sie zu dem Geschehen beigetragen haben – ob sie vielleicht zweideutige Zeichen gesendet haben. Oder ob sie die Aktionen ihres Gegenübers eventuell fehlinterpretiert haben.“
Besonders problematisch kann es für die Betroffenen werden, wenn der Dozenten oder wissenschaftliche Mitarbeiter aufdringlich wird. „Dann findet die Belästigung meist hinter verschlossenen Türen, etwa bei einem Beratungsgespräch statt“, sagt Katrin List. Am Ende stehe Wort gegen Wort: „Die Situation kann von außen, durch Dritte, nicht mehr beurteilt werden. In so einem Fall sind häufig auch die Zuständigen an der Universität sehr verunsichert, weil sie im Prinzip keine Beweise für eine Belästigung haben.“
Dazu kommt: Im Gegensatz zu sexueller Nötigung oder sexuellem Missbrauch wird die Belästigung strafrechtlich erst dann verfolgt, wenn sie eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreitet – ein Grund mehr für die Betroffenen, sich nicht an entsprechende Ansprechpartner wie die Gleichstellungsbeauftragte an der Uni zu wenden. Dass es einen solchen Ansprechpartner oder eine Beschwerdestelle an Hochschulen gibt, ist in Baden-Württemberg immerhin gesetzlich verankert – anders als in anderen Bundesländern und anders als im Arbeitsrecht, wo das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gilt. „In der Arbeitswelt ist das so, dass jemand, der sich sexuell belästigt fühlt, von seinem Chef ganz klar gesetzlich geschützt werden muss und dieser auch etwas unternehmen muss, das kann bis hin zur Kündigung gehen“, sagt Christine Lüders.
„Häufig wollen die Studentinnen nicht, dass etwas unternommen wird“
Zwar kann eine sexuelle Belästigung auch an der Hochschule zu einer Entlassung oder, wenn es sich bei dem Täter um einen Kommilitonen handelt, einer Exmatrikulierung führen. Doch dazu kommt es nur in den seltensten Fällen, sagt Gabriele Hardtmann, Gleichstellungsbeauftragte an der Universität Stuttgart: „Häufig wollen die Studentinnen nicht, dass ihr Name genannt wird.“ Für Gabriele Hardtmann hat in einem solchen Fall die absolute Vertraulichkeit Priorität – und sie versucht, die Betroffene von einem weiteren Vorgehen zu überzeugen: „Damit nicht auch noch andere Personen unter dem Verhalten des Täters oder der Täterin leiden müssen.“ Manchmal seien auch Männer Opfer von Stalking oder sexueller Belästigung.
Bei den ihr bekannten Vorfällen an der Universität Stuttgart, sagt sie, handele es sich oft um Grenzüberschreitungen zwischen den Studierenden selbst. Es sei aber auch schon vorgekommen, dass sich Studentinnen und Studenten von Mitarbeitern der Universität belästigt fühlten. „Wenn etwa der Dozent immer näher rückt, obwohl man ihn gebeten hat, das zu unterlassen – das ist für mich schon eine Überschreitung dessen, was noch in Ordnung geht“, sagt sie. Zumal die Studentinnen sich nicht selten auch noch in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden; etwa, wenn sie bei der Person noch eine Prüfung ablegen müssen.
Weiß die Gleichstellungsbeauftragte, wer sich im Ton vergreift oder gar handgreiflich wird, nimmt sie Kontakt mit dem Täter auf. Je nach Schwere des Falls, informiert sie auch den Rektor der Universität. „Fast immer lässt sich mit einem deutlichen Gespräch klären, dass die Universität ein solches Verhalten überhaupt nicht toleriert“, sagt Gabriele Hardtmann. „Die Fallzahlen, die mir bekannt sind, sind klein“, sagt sie. „Wie groß die Dunkelziffer ist, kann ich natürlich nicht sagen. Aber: jeder Fall ist einer zu viel.“