Kaum Spitzenkandidat, schon im Kreuzfeuer: Dem FDP-Politiker Rainer Brüderle wird vorgeworfen, sich vor einem Jahr auf ungehörige Weise an eine junge Frau – eine Reporterin des „Stern“ – „herangewanzt“ zu haben.

Berlin - FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle sieht sich wenige Tage nach seiner Berufung als Spitzenmann der FDP im Bundestagswahlkampf mit dem Vorwurf des Sexismus konfrontiert. Die „Stern“-Reporterin Laura Himmelreich hat in einem sehr persönlich gehaltenen Bericht von Szenen berichtet, in denen Brüderle wie ein lüsterner Greis wirkt. Brüderle habe sich, wie es in der von zwei anderen Autoren geschriebenen Online-Ankündigung („Der spitze Kandidat“) des Stern-Artikels heißt, in einer Hotelbar „an sie heran gewanzt“, um „seine Aufreißerqualitäten an die Frau zu bringen“.

 

Himmelreichs Artikel ist überschrieben mit dem Titel „Der Herrenwitz“ und beschreibt zunächst ein Gespräch, das vor über einem Jahr in der Bar des Maritim-Hotels in Stuttgart am Rande des Dreikönigsballs der FDP statt gefunden haben soll. Solche Treffen werden von Journalisten und Politikern gern genutzt, um Hintergrundinformationen auszutauschen oder Konflikte zu bereinigen. Sie habe damals von Brüderle wissen wollen, wie er es finde, in seinem Alter zum Hoffnungsträger aufzusteigen. Er habe darauf nicht geantwortet, sich statt dessen mit ihrem Alter beschäftigt und dieses richtig geschätzt. „Mit Frauen in dem Alter kenne ich mich aus“, soll er zu der damals 28-Jährigen gesagt haben. Nachdem die Reporterin ihm offenbart habe, dass sie auch schon auf dem Oktoberfest gewesen sei, heißt es weiter: „Brüderles Blick wandert auf meinen Busen. ‚Sie können ein Dirndl auch ausfüllen’. Im Laufe des Gesprächs greift er nach meiner Hand und küsst sie. ‚Ich möchte, dass sie meine Tanzkarte annehmen.’ ‚Herr Brüderle’, sage ich, ‚Sie sind Politiker, ich bin Journalistin.’ ‚Politiker verfallen doch alle Journalistinnen’, sagt er. Ich sage: ‚Ich finde es besser, wir halten das hier professionell.’ ‚Am Ende sind wir alle nur Menschen’.“

Körbchengröße 90 L

Dann schildert Himmelreich, wie Brüderle auf Wahlkampftour in Schleswig-Holstein den Euter einer Kuh mit „Körbchengröße 90 L“ umschreibt“. Brüderle, so Himmelreich, befinde sich „in einem Zustand der Dauererotisierung“. Der Artikel endet erneut mit der Begebenheit an der Bar. Er sei bei der Verabschiedung „sehr nah auf mein Gesicht“ zugesteuert. Sie sei zurückgewichen, habe schützend ihre Hände vor ihrem Körper gehalten. Brüderles Sprecherin sei daraufhin dazwischengegangen, habe Brüderle mit den Worten: „Zeit fürs Bett“ aus der Bar geführt und zu der Reporterin gesagt: „Das tut mir leid“.

Brüderle hat sich zu den Vorwürfen bisher nicht geäußert. Aus den Reihen der FDP wird vor allem der Zeitpunkt der Veröffentlichung kritisiert. Himmelreich bestätigt auf Twitter, dass die Veröffentlichung zum jetzigen Zeitpunkt nicht deshalb erfolgte, weil man beim „Stern“ ein wichtiges Thema („sexistisches Verhalten von Politikern“) identifiziert habe. Die Frage, weshalb die Geschichte jetzt erst erscheine, beantwortet sie mit dem Satz: „Weil eine Geschichte über das ‚neue Gesicht’ der FDP nun eine andere Relevanz hat.“ Der Leiter der Berliner Redaktion, Axel Vornbäumen, verteidigte gegenüber der StZ die Autorin. Himmelreich habe die Geschichte zuvor schon mehrfach ins Gespräch gebracht und über Monate hinweg recherchiert, ob sich ihr erster Eindruck an der Bar bestätige. Jetzt, da die FDP sich mit einem angeblich „neuen Gesicht“ präsentiert habe, sah der „Stern“ den passenden Zeitpunkt gekommen, Brüderles problematischen Umgang mit Frauen „aus dem Blickwinkel einer jüngeren Kollegin“ beschreiben zu lassen. „Stern“-Chefredakteur Thomas Osterkorn erklärte, junge Journalistinnen seien „kein Freiwild“.

Heftige Attacken aus der FDP

Das alles lässt den Schluss zu, dass die mit seiner Berufung zum Spitzenkandidaten größer gewordene Fallhöhe des Politikers Brüderle der Hauptgrund für die Veröffentlichung war. Ein wichtiges Thema, das übrigens nicht nur Frauen im Journalismus betrifft, wurde redaktionspolitisch zur taktischen Waffe. Eine Waffe, die eingesetzt wurde, als der Effekt am größten war.

FDP-Mitglieder nutzen diesen Eindruck, um Himmelreich und den „Stern“ zu attackieren. „Ich wundere mich, dass die junge Journalistin offensichtlich über ein Jahr gebraucht hat, um ihr Erlebnis zu verarbeiten“, sagte Wolfgang Kubicki „Spiegel Online“. Der Bundestagsabgeordnete Rainer Stinner sagte: „Das ist so durchsichtig und das ist so primitiv, dass ich sage, das fällt eher auf den Journalismus des ’Stern’ zurück als auf Herrn Brüderle.“

Der Frage, ob an den Vorwürfen etwas dran sein könnte, stellen sich die Kritiker freilich nicht – aus guten Gründen. Denn auch wenn die Aussagen nicht überprüft werden können, dürften in der FDP kaum Brüderle-Kenner zu finden sein, die derartige Sprüche ausschließen. Der ehemalige Weinbauminister aus Rheinland-Pfalz ist bekannt für seine Neigung zu schlüpfrigen Altherrenwitzen. Von Reporterinnen wird dies unterschiedlich wahrgenommen. „Focus“-Online-Korrespondentin Martina Fietz schreibt von einer „rheinisch-direkten Unverblümtheit“. Diese erinnere aber „eher an großväterliche Kühnheit denn an testosterongesteuerten Machismus“.