Der Missbrauchsfall von Staufen weckt Zweifel daran, ob rückfallgefährdete Sextäter wirklich zum Nulltarif überwacht werden können. Am Montag beginnt der Prozess gegen die beiden Hauptbeschuldigten.

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Stuttgart - Ein Polizeibeamter sitzt im Zeugenstand des Freiburger Landgerichts. Der Mann ist pensioniert und nimmt kein Blatt vor den Mund. Das KURS-Programm, mit dem das Land Baden-Württemberg entlassene Sexualtäter auf dem rechten Pfad der Tugend halten möchte, sei „überhaupt nicht effektiv“, klagt der Beamte. Er muss es wissen. Mehrere Jahre hat er im Freiburger Polizeipräsidium selbst an KURS, der „Konzeption zum Umgang mit besonders rückfallgefährdeten Sexualstraftätern“, mitgewirkt. Seine Bilanz ist niederschmetternd: Es gebe viele Beispiele von Straftätern, die trotz der Überwachung straffällig geworden seien.

 

Auch zwei Beschuldigte im Staufener Missbrauchsfall standen unter der besonderen Beobachtung der KURS-Beamten. Dennoch initiierten sie den gravierendsten Fall von Kindesmissbrauch in der Geschichte des Landes. Einer der Männer, der 41-jährige Markus K., ist im April zu einer zehnjährigen Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt worden. Der zweite, Christian L., gilt als Hauptbeschuldigter. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Berrin T. wird ihm von Montag an am Freiburger Landgericht der Prozess gemacht. Über Jahre soll das Paar den heute neunjährigen Sohn der Frau sexuell missbraucht und an pädophile Männer „vermietet“ haben.Wie konnte all das unter den Augen der KURS-Beamten geschehen? „Wir hatten überhaupt kein gutes Gefühl“, gibt der pensionierte Polizist zu, zu dessen Klienten Markus K. zählte. Eigentlich hätte dessen Internetanschluss überwacht werden müssen. Doch aus Personalgründen sei dies nicht gelungen. „Ich bin der Meinung, dass KURS nicht funktioniert, weil das Personal fehlt“, sagt der Beamte.

Drei Landesministerien haben das Programm konzipiert

Als KURS im März 2010 von den damaligen Landesministern für Inneres, Soziales und Justiz, Heribert Rech, Monika Stolz (beide CDU) und Ulrich Goll (FDP), vorgestellt wurde, war von einem „deutlichen Zugewinn an Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger“ die Rede. Durch die Schaffung einer zentralen Stelle könnten die bisher weitgehend parallel durchgeführten Maßnahmen der justiziellen Führungsaufsicht und der polizeilichen Gefahrenabwehr intensiviert und miteinander verzahnt werden. Die Einhaltung richterlicher Weisungen wie Meldeauflagen, Annäherungsverbote oder die Untersagung von Alkoholkonsum ließen sich besser kontrollieren. Wie man inzwischen weiß, hat all dies im Staufener Fall nicht funktioniert.

Tatsächlich ist die Rückfallquote bei Sexualstraftätern hoch. So landeten laut einer Studie des Bundesjustizministeriums 44 Prozent aller haftentlassenen Sexualstraftäter innerhalb von neun Jahren wieder vor Gericht. Ins KURS-Programm werden gezielt sogenannte Risikoprobanden einbezogen und nach ihrem Gefahrenpotenzial eingruppiert. Bis zum Juni 2017 waren das immerhin 1187 Menschen. Ob bei diesen Eingruppierungen immer richtig entschieden wurde, ist nie systematisch ermittelt worden. Ebenfalls fehlt eine Untersuchung zur Erfolgsquote. Es erfolge keine belastbare statistische Erfassung, erklärt der Sprecher des Innenministeriums, Renato Gigliotti, und bemüht eine Erklärung, die wohl nur innerhalb der Bürokratie überzeugen dürfte: Die gemeinsame Verwaltungsvorschrift der drei Ministerien enthalte gar keine Definition, „was als Rückfalltat eines KURS-Probanden zu werten wäre“.

Kritische Bilanz wird auch in einer Masterarbeit gezogen

Allerdings liegt seit dem vergangenen Jahr eine wissenschaftliche Arbeit vor, die zeigt, dass der pensionierte Polizist aus Freiburg nicht der Einzige ist, der am KURS-Programm zweifelt. Für eine Masterarbeit, die bei der Deutschen Polizeihochschule in Münster eingereicht wurde, hat der Polizeihauptkommissar Christoph Dümmig, mittlerweile Leiter des Polizeireviers im südbadischen Schopfheim, mehr als hundert Mitarbeiter aus verschiedenen Bereichen des KURS-Programms zu ihren Erfahrungen befragt. Fast alle stellen der Konzeption ein ordentliches Zeugnis aus. Allerdings wird deutlich, dass die Begeisterung durch die hohe Arbeitsbelastung getrübt wird. „Man hat denjenigen, die schon vorher viel zu tun hatten, diese Aufgabe zusätzlich übertragen“, stellt Dümmig fest.

Ein Drittel der Bediensteten im Polizeivollzugsdienst und 40 Prozent der Mitarbeiter der eigens eingerichteten KURS-Zentralstelle sehen sich hoch oder sehr hoch belastet. Was offiziell ein Nebenamt sei, entpuppe sich als Vollzeitjob, so Dümmig. So betreuen an einer Dienststelle drei Beamte mehr als 40 Probanden, ohne von ihren sonstigen Dienstpflichten entbunden zu sein. „Manche Dinge werden nur schnell zur eigenen Absicherung erledigt“, zitiert Dümmig einen beteiligten Beamten. Selbst auf Wohnsitzüberprüfungen werde verzichtet, weil dazu die Kapazitäten fehlten. So war es auch im Fall des mutmaßlichen Haupttäters Christian L. Nachdem die Bewährungshelferin ihren Verdacht geäußert hatte, ihr Klient sei verbotswidrig bei einer Frau mit Kind eingezogen, vergingen fünf Monate, ehe die zuständigen Beamten handelten.

In den anderen Bundesländern gibt es ähnliche Programme

Dem Glauben, dass sich die Konzeption zum Nulltarif umsetzen lässt, hängen die zuständigen Minister immer noch an. Es handle sich „um eine Konzeption, die in der Alltagsorganisation umgesetzt wird. Besondere Projektkosten entstehen daher nicht“, erklärt das Innenministerium. Ob sich daran etwas ändert, ist ungewiss. Immerhin hat eine interministerielle Arbeitsgruppe damit begonnen, sich „mit möglichen aus dem Staufener Missbrauchsfall resultierenden Arbeitsfeldern“ zu befassen. Ex-Justizminister Ulrich Goll (FDP) geht als Oppositionspolitiker mittlerweile auf Distanz zum eigenen Programm. Es bestehe die Gefahr, dass Richter im Vertrauen auf die Konzeption Sexualtätern eine günstigere Prognose ausstellten und deshalb auf die Verhängung einer Sicherungsverwahrung verzichteten, so Goll.

In allen anderen Bundesländern gibt es ähnliche Konzepte. Man habe mittlerweile die Programme von 13 Bundesländern evaluiert, sagt Anja Schiemann, Professorin für Kriminalrecht in Münster. Die Probleme seien überall die gleichen. In Karlsruhe beginnt am Montag ein weiterer Prozess. Vor Gericht steht ein Mann aus Schleswig-Holstein, der mit Fesselwerkzeug in den Südwesten gefahren war, um den Neunjährigen zu treffen. Zuvor hatte er im Darknet Tötungsfantasien geäußert. Auch er war einschlägig vorbestraft, auch er befand sich in einem Programm für rückfallgefährdete Sexualtäter. Eine gegen ihn vom Kieler Landgericht vor zehn Jahren verhängte Sicherungsverwahrung war vom Bundesgerichtshof kassiert worden.