Schutzkonzepte sollen sexualisierter Gewalt in Kindertagesstätten, an Schulen, in Vereinen und in anderen Institutionen vorbeugen. Um sie zu erarbeiten, braucht es viel Zeit und Geld – doch die Investition lohnt sich.

Esslingen - Der Schock saß tief bei den Mitarbeitern der Jugendhilfe Hochdorf, als im August 2002 bekannt wurde, dass einer ihrer Kollegen einen Jugendlichen sexuell missbraucht hatte. Ein Mensch, mit dem sie monatelang zusammengearbeitet hatten, mit dem sie Dienstpläne genauso wie die Probleme und die Bedürfnisse ihrer Schutzbefohlenen besprochen hatten. Als „vorher unvorstellbar“ bezeichnet Claudia Obele, die Vorstandsvorsitzende der evangelischen Jugendhilfe im Kreis Ludwigsburg, das, was in jenem Sommer geschah.

 

Zu vier Jahren und neun Monaten Haft wurde der ehemalige Mitarbeiter verurteilt, zudem erteilte ihm das Gericht lebenslanges Berufsverbot. Die Leitung der Jugendhilfe zog jedoch auch darüber hinaus, für sich, Konsequenzen – um eine Wiederholung solcher Straftaten zu verhindern. „Spätestens nach dem Erleben des emotionalen Zusammenbruchs der betroffenen Eltern war für uns klar, dass wir diese schmerzliche Erfahrung nutzen werden“, sagt Obele. Es begann ein Organisationsentwicklungsprozess in der Einrichtung, der das Ziel hatte, die Kinder besser zu schützen und den Mitarbeitern zugleich mehr Sicherheit im Umgang mit Vorfällen sowie mit Vermutungen zu geben.

Am Ende dieses Prozesses steht mittlerweile ein vielgliedriges Schutzkonzept, bei dem sich die Mitarbeiter etwa schon beim Einstellungsgespräch zur Einhaltung von neun ethischen Grundsätzen verpflichten.

Etwa eine Million Kinder und Jugendliche sind betroffen

Individuell erarbeitete Schutzkonzepte wie dieses hält die Sozialpädagogin Julia Gebrande für unabdingbar an Institutionen – egal, ob es sich um Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Vereine, Einrichtungen der Kirche, der Kinder- und Jugendhilfe, der Behindertenhilfe oder Alten- und Pflegeheime handelt. „Wenn Menschen Macht über andere innehaben, bietet sich ein Boden für deren Ausnutzung“, sagt Gebrande, die an der Hochschule Esslingen lehrt. „Je größer die Machtungleichheit ist, desto größer ist dabei die Gefahr für sexualisierte Übergriffe.“

Sexualisierte Gewalt – dieser Begriff umfasst zum einen den sexuellen Missbrauch von Kindern, Jugendlichen und anderen Schutzbefohlenen wie etwa Menschen mit Behinderungen. Zum anderen bezieht er auch den Strafbestand der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung mit ein.

In Deutschland hat die Polizei nach der Kriminalstatistik 2016 im vergangenen Jahr 7919 Fälle der sexuellen Nötigung und der Vergewaltigung erfasst, dazu 12 019 Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern. Die Dunkelziffer dürfte in beiden Bereichen weitaus höher liegen. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die sexuellen Missbrauch erlebt haben, schätzt etwa der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, auf eine Million – allein in Deutschland. Dabei bezieht sich Rörig auf Zahlen der Weltgesundheitsorganisation.

Die Mehrheit der Fälle ereignet sich nach wie vor im familiären Rahmen und im nahen sozialen Umfeld. Und nach wie vor gilt das Thema als eines, über das man nicht gerne spricht – auch wenn es die ganze Gesellschaft angeht. In den vergangenen Jahren, nach der Aufdeckung der Missbrauchsfälle an pädagogischen Einrichtungen wie etwa der Odenwaldschule, habe immerhin eine Sensibilisierung für diese Art von Gewalt in den Institutionen stattgefunden, sagt Julia Gebrande. Das sei auch ein großes Verdienst der Frauenbewegung, die das Thema angesprochen und Anlaufstellen gegründet habe.

Was ein gutes Schutzkonzept beinhaltet

Diese müssten bei der Etablierung eines Schutzkonzepts unbedingt miteinbezogen werden, so Barbara Kavemann, Soziologin am Sozialwissenschaftlichen Frauen-Forschungs-Institut in Freiburg und Berlin: „Man braucht die Perspektive von außen.“

Entscheidend für ein funktionierendes Präventionsprogramm sei außerdem ein pädagogisches Konzept für Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Des Weiteren brauche es einen Fahrplan für den Umgang mit Verdachtsfällen – auch mit solchen, die sich nicht bewahrheitet haben. „Viel zu selten ist in einem Schutzkonzept festgelegt, ab wann eine Vermutung als widerlegt gilt“, betont Kavemann. „Jede Einrichtung muss kritisch untersuchen, wo die Risiken in ihrem Fall liegen.“

Eine hohes Risiko trägt ihrer Meinung nach insbesondere der stationäre Bereich. Sehr häufig komme sexualisierte Gewalt in der stationären Jugendhilfe vor – auch deshalb, weil das Verhältnis von Nähe und Distanz im pädagogischen Bereich oft den Schlüssel zum Erfolg darstellt. „Das Arbeiten in diesem Spannungsfeld ist für die Pädagogen ein tägliches Dilemma.“ Deshalb müsse der Diskurs geändert werden, so die Soziologin: weg von der professionellen Distanz, hin zur professionellen Nähe. „Sonst kommen absurde Regeln heraus, wie zum Beispiel, dass männliche Mitarbeiter in Kitas nicht mehr Windeln wechseln dürfen.“

„Sexuelle Übergriffe fangen nicht erst an, wenn der Täter das Kind anfasst“

Schutzkonzepte könnten auch in einem solchen Fall Klarheit schaffen. Einen Nachteil jedoch hat die Implementierung derartiger Konzepte: Sie kostet viel Zeit und viel Geld. „Bis ein funktionierendes Regelwerk aufgestellt wird, vergehen in der Regel zwei Jahre“, weiß Kavemann.

So lange hat es auch bei der Jugendhilfe Hochdorf gedauert, ein funktionierendes Präventionsprogramm aufzustellen. Die neun ethischen Grundsätze etwa, zu denen sich die Mitarbeiter der Einrichtung allesamt verpflichten, wurden von der Gesamtmitarbeiterschaft zusammen erarbeitet, sie knüpfen am Alltag an. „Die Regeln müssen für die Praxis Orientierung geben“, meint Michael Rütsche, Beauftragter im Bereich Qualitätsmanagement bei der Jugendhilfe.

Als weiteren wichtigen Punkt sieht er den Umgang mit Fehlern. „Fehler können passieren“, sagt Rütsche. „Man muss sie dann aber auch ansprechen können, um sie gemeinsam zu bewerten.“ Um Transparenz herstellen zu können, sei eine konstruktive Fehlerkultur nötig, in der Vertrauen und ein positiver Umgang der Kollegen untereinander sowie mit der Leitung vorherrschten. Vorfälle, die seltsam anmuteten, müssten offen angesprochen werden. Beispiele dafür seien Mitarbeiter, die Jugendlichen teure Geschenke machen oder – wie 2002 geschehen – unverhältnismäßig viele Nacht- und Wochenenddienste übernehmen. „Sexuelle Übergriffe fangen nicht erst dann an, wenn der Täter das Kind anfasst“, sagt Rütsche. „Machtmissbrauch beginnt viel früher.“

- Im Zuge der Aufarbeitung hat die Jugendhilfe Hochdorf eine Ratgeberbroschüre veröffentlicht. Die Arbeitshilfe „Damit es nicht nochmal passiert“ (128 Seiten, 17,99 Euro) kann man im Internet bestellen unter www.jugendhilfe-hochdorf.de.

So wird Kindesmissbrauch in Deutschland aufgearbeitet

Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs

Kommission In Deutschland nimmt sich eine Kommission der Aufarbeitung sexuellen Kindesbrauchs an. Sie wurde am 26. Januar 2016 von Johannes-Wilhelm Rörig, dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, berufen und ist zunächst bis 31. März 2019 eingesetzt. Im Mai 2016 hat das siebenköpfige Komitee seine Arbeit aufgenommen, Mitte Juni dieses Jahres hat es einen ersten Zwischenbericht vorgestellt.

Bericht Der Zwischenbericht beinhaltet Erkenntnisse aus rund 200 vertraulichen Anhörungen sowie 170 schriftlichen Berichten – alles Geschichten von Betroffenen, die in der Kindheit oder der Jugend sexuellem Missbrauch ausgesetzt waren. Im Zentrum der bisherigen Arbeit stand der Missbrauch innerhalb der Familie. Etwa 70 Prozent der Fälle fallen in diese Kategorie, schätzen die Experten. Die Kinder, so ihre Erkenntnis, bekommen nur selten Hilfe: zum einen, weil mitwissende Angehörige nicht einschreiten, zum anderen, weil die Familie nach wie vor als Privatraum in der Gesellschaft gilt, in den sich Außenstehende nicht einmischen. „Je häufiger darüber gesprochen wird, desto früher können Signale erkannt und Missbrauch verhindert werden“, sagt Sabine Andresen, die Vorsitzende der Kommission.

Ausblick Nach dem Arbeitsschwerpunkt sexuelle Gewalt in der Familie richtet die Kommission 2017 und 2018 ihren Fokus auf die DDR, die Kirchen und rituellen, organisierten Missbrauch. Betroffene können sich über die Arbeit der Kommission informieren unter der Nummer 08 00 / 4 03 00 40 (kostenfrei und anonym) und unter www.aufarbeitungskommission.de/.