Die Teilhabe von Menschen mit Behinderung wird viel diskutiert, das Thema Sexualität dabei aber meist ausgeklammert. Zwei Rollstuhlfahrer aus Stuttgart erzählen von ihrer Suche nach Nähe und sexueller Erfüllung.

Stuttgart - Die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderung wird viel diskutiert, das Thema Sexualität dabei aber meist ausgeklammert. In den Medien ist Erotik dauerpräsent, in jeder Limo-Werbung prickelt es vor lasziver Spannung, alle Welt ist in Flirtlaune und strotz vor Sinneslust. Doch Berührungspunkte zwischen Menschen mit und ohne Behinderung – wie sie der Oscar-nominierte Hollywoodfilm „The Sessions“ mit Helen Hunt jetzt beleuchtet – gibt es selten. Zwei Rollstuhlfahrer aus Stuttgart erzählen von ihrer Suche nach Nähe und sexueller Erfüllung.

 

Carmen Kohr tanzte allein in einer Disco in ihrem Rollstuhl, als der junge Mann sie ansprach. „Es ist toll, wie du das machst“, sagte er. Sie unterhielten sich, tauschten Telefonnummern aus, telefonierten ein paar Tage später, trafen und verliebten sich. Die Beziehung hielt fünf Jahre.

In der Wohnung von Carmen Kohr hängt ein Porträt, das ein Straßenkünstler vor ein paar Jahren von ihr zeichnete. Die schlichten Kohlestriche fangen ihren klaren Blick ein. Die Regale sind voll mit Büchern, neben der Musikanlage liegen Hörbücher der „Drei Fragezeichen“. Die 38-Jährige arbeitet als Erzieherin in einer Stuttgarter Kindertagesstätte. Sie wurde mit offenem Rücken geboren – Spina bifida im Fachjargon – und ist ab der Lendenwirbelsäule querschnittsgelähmt.

„Wir führten eine ganz normale Beziehung und haben alles gemacht, was andere auch machen“, sagt sie über die Zeit mit ihrem damaligen Freund. Bei ihm gab es keine Berührungsängste. Seine Mutter leitete eine Behindertengruppe und nahm ihn als Kind manchmal zu den Treffen mit. Später studierte er Sozialpädagogik. Wer den Umgang mit behinderten Menschen schon früh als selbstverständlich erlebt, sei später offener für eine Liebesbeziehung, meint Kohr.

Teenager-Schwärmereien blieben immer einseitig

Als Teenager verguckte sie sich manchmal in Zivildienstleistende, die in ihrer Schule beschäftigt waren, schrieb ihnen Liebesbriefe. Die Schwärmerei blieb einseitig. Nicht der Rollstuhl, der Altersunterschied sei die Barriere, lautete eine der Antworten. „Ich hatte das Gefühl, das waren alles Ausreden, in Wahrheit kamen sie mit meiner Behinderung nicht klar.“ Carmen Kohr war frustriert damals. Heute sagt sie: „Die Jungs konnten nichts dafür, dass sie nicht wussten, wie man mit mir umgeht. Sie waren noch so jung, erst um die zwanzig.“

In der Pubertät fiel es ihr schwer, sich attraktiv zu fühlen. Zu sehr unterschied sie sich vom gängigen Schönheitsideal: dünn, lange Beine, makellos. Schminke und hübsche Klamotten sollten von der Behinderung ablenken. Mit wachsender Lebenserfahrung fand sie zu weiblichem Selbstbewusstsein – und zu ihrer ersten Liebe.

In ihrer Internatswohngruppe lernte sie mit 19 Jahren ihren ersten Freund kennen. Er war zwei Jahre älter und hatte eine Form von Spastik. Sie sahen sich jeden Tag, und das Gefühl füreinander wuchs wie von allein. „Es lief wie bei anderen Leuten auch“, sagt sie. Dann zog er nach Berlin. Sie besuchten sich ein, zwei Mal im Monat, wollten zusammenziehen. Doch die Beziehung zerbrach an der Distanz.

Die Suche nach Intimität

Carmen Kohr nimmt regelmäßig an Freizeitangeboten des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung teil, hat dort viele Bekannte. Sie trifft sich gern mit Freunden in der Kneipe, im Kino, in der Disco. Als Single ging sie oft abends aus, auch allein. Manchmal sprachen Männer sie an, einige auf nette, andere auf dumme Weise. Mehr ergeben hat sich nie. Deshalb meldete sie sich bei der Singlebörse „Handicap-Love“ an, geriet aber an „blöde Typen“, wie sie sagt. Einer erzählte nicht die Wahrheit über sich, ein anderer schrieb irgendwann unverschämt anzüglich. „Grundsätzlich finde ich Kontaktportale im Netz okay. Nur mir liegt es eben nicht.“

Mittlerweile gibt es Liebesdienstleister, die auf Menschen mit Behinderungen spezialisiert sind und von erotischen Massagen bis zum Geschlechtsverkehr alle Varianten von Nähe anbieten. Manche Menschen mit Handicap sehen darin die einzige Möglichkeit, Intimität zu erleben. Carmen Kohr lehnt es für sich ab. „Einen Fremden möchte ich nicht an mich heranlassen. Es gibt immer einen anderen Weg.“ Ihren jetzigen Freund kennt sie schon seit zwanzig Jahren. Sie lernte ihn mit 18 kennen und mit 38 lieben. Seit einer Körperbehindertenfreizeit waren sie beste Freunde, seit Sommer sind sie ein Paar. „Früher habe ich zu viel von mir erwartet. Ich dachte, mir würde wegen meiner Behinderung sexuell etwas fehlen. Aber jetzt erlebe ich, dass es überhaupt nicht so ist.“

Ihr Freund ist schwerer behindert als sie. Eine Zeit lang zweifelte Kohr, ob die Beziehung sie vielleicht zu sehr einschränken könnte – und befand sich damit plötzlich in der Situation vieler Nicht-Behinderter. „Die meisten haben Angst vor dem Ungewissen. Davor, dass sie ihrer Freiheiten beraubt werden“, sagt Carmen Kohr. Und so bleiben in den meisten Fällen behinderte Menschen in Partnerschaften unter sich. Dabei kann es auch anders funktionieren, davon ist Carmen Kohr überzeugt. „Zwei Menschen müssen sich aufeinander einlassen. Das ist das Einzige, was zählt.“

Friedrich Müller hatte noch nie eine Freundin

Friedrich Müller machte seine erste erotische Erfahrung mit der Zeitschrift Neue Revue, die beim Friseur lag. Nackte Brüste, damals! Er kichert beim Erzählen wie ein Junge. Damals war er 14. Mit niemandem konnte er im verschlafenen Neuenstein bei Schwäbisch Hall in den sechziger und siebziger Jahren über Sex sprechen.

Friedrich Müller redet langsam, wählt seine Worte genau. Er hat Sozialwissenschaft und Geschichte studiert, interessiert sich für Politik, geht regelmäßig ins Literaturhaus. In seiner Stuttgarter Wohnung stehen mehrere Rechner und andere Elektronikgeräte. Der Medienlektor arbeitet von zu Hause aus. Nebenbei ist er als Vorsitzender des Vereins „Zentrum für selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen“ tätig, engagiert sich etwa für Inklusion und Barrierefreiheit. Müller leidet an einer Tetraspastik, eine Nervenstörung infolge einer Gehirnblutung nach einer Frühgeburt. Seine motorischen Funktionen sind eingeschränkt, aber er spürt jeden Teil seines Körpers.

Friedrich Müller hatte noch nie eine Freundin. „Ich sehne mich oftmals nach dem jungen Frauentyp, zu dem ich mich als Jugendlicher hingezogen fühlte“, sagt der 55-Jährige. Bisher hat er noch nicht herausgefunden, wie man eine Frau anspricht, ohne dass sie davonläuft. „Wenn ich mal auf eine zugehe, wird gleich zugemacht.“ Viele Frauen, glaubt Müller, hätten den Gedanken im Hinterkopf: „Wenn das was wird, muss ich ihn versorgen“. Und lässt sich mal eine auf ein kleines Geplänkel ein, wird sie sofort von ihrem Umfeld gebremst, so sein Eindruck. Am nettesten war noch jene Abfuhr einer nichtbehinderten Studentin damals auf dem Campus in Mannheim. Sie sagte, sie würde ja, wenn sie könnte, habe aber einen Freund. „Damit kann ich auch nichts anfangen“, sagt Friedrich Müller.

Nähe kann man sich nicht kaufen

Als Mann im Rollstuhl entspreche er eben nicht dem Ideal des starken Beschützers, erklärt er mit denselben Klischees, die ihn gleichzeitig ärgern. Der Umgang mit Sexualität in der Gesellschaft sei schwieriger als früher, obwohl man heutzutage mit Aufgeklärtheit kokettiere, sagt Müller. Kommt ihm mal ein lockerer Spruch über die Lippen, herrsche gerade bei Frauen, die sich selbstbewusst geben, gleich ein betretenes Schweigen. „Ich will ja nicht den Brüderle machen, aber früher wurde einem noch eher verziehen, wenn man geflirtet hat.“

Zu einigen weiblichen Bekannten spürte er schon eine emotionale Nähe, jedoch war jede von ihnen verheiratet. „Wenn eine auf mich zu gekommen wäre und gesagt hätte, ihr mache ein Seitensprung nichts aus, dann wäre ich wohl schwach geworden. Ich kann mir auch vorstellen, eine Partnerin mit jemandem zu teilen, um nicht ganz allein dazustehen.“

Manchmal telefoniert Müller einer verheirateten Frau hinterher. Von selbst ruft sie nie an. Sie habe so viel zu tun, sagt sie. Er sagt, sie seien Freunde. Eine andere Frau, mit der er sich gut verstand, meidet ihn inzwischen. Er hatte sie in einem Lokal kennen gelernt. Anfangs verstanden sie sich gut, „wenn Sie nicht da sind, fehlt was“, hat sie manchmal gesagt und ihm in die Jacke geholfen. Er konnte sich mehr vorstellen, auch freundschaftlich. Sagte ihr, dass er sie schätze. Doch plötzlich schlug ihre Sympathie um, als fühlte sie sich provoziert. „Jetzt bin ich der Bösewicht, dabei habe ich doch gar nichts getan. So was belastet mich.“

Friedrich Müller hat Sex mit Prostituierten, doch Tiefe und Nähe kann er nicht kaufen. Mit 22 ging er das erste Mal in ein Bordell. „Nun ist es ein fester Bestandteil in meinem Leben, leider. Und ein kostenintensiver.“ Am besten gefällt ihm eine Prostituierte, die er mal angesprochen hat und die ihn seitdem regelmäßig besucht. Er hat deswegen schon Schulden gemacht. Lange Zeit schämte er sich und war gleichzeitig wütend, offenbar keine andere Möglichkeit zu haben, sexuelle Erfahrungen zu machen. Inzwischen seien Scham und Wut abgelegt, sagt Friedrich Müller. „Aber wirkliche Erfüllung wäre für mich eine Beziehung, die auf gegenseitigem Einverständnis beruht und frei ist von Abhängigkeiten.“