Das Sexualstrafrecht ist kein Instrument, um gesellschaftlichen Wandel zu schaffen. Es ist dessen Folge, kommentiert Katja Bauer.

Berlin - In Europa erfährt jede zehnte Frau eine Form sexueller Gewalt. Jede zwanzigste berichtet, vergewaltigt worden zu sein. Die allermeisten Frauen kennen den Täter vorher. Um Missverständnissen vorzubeugen: Gemeint ist nicht die sexuelle Belästigung, die kleine schlüpfrige Bemerkung, der unscheinbare Übergriff am Rande eines Empfangs. Die erleben 60 Prozent aller Frauen. Vor zwei Jahren hat die Grundrechteagentur der Europäischen Union 42 000 Frauen zu diesem Teil ihrer Lebenswirklichkeit befragt und bekam diese Antworten. Sie beschreiben weiblichen Alltag.

 

Seit Generationen – und immer noch – lernen Frauen in der Folge dieser Erfahrung, was vernünftig ist: Niemals sorglos sein. Immer Verantwortung dafür übernehmen, nicht Opfer zu werden. Im Zweifel die Straßenseite wechseln, neuen Bekanntschaften nicht vorschnell vertrauen. So frei leben, wie sie es sich trauen, und wie es die Gesellschaft glücklicherweise immer mehr und immer einmütiger ermöglicht, und sich zugleich dabei schützen, so gut es geht.

Den Mund halten, wenn doch was passiert ist

Was sie noch lernen, quasi als Folgerung: den Mund halten, wenn doch etwas passiert ist, für das sie leider immer noch einen Teil der Schuld auf sich nehmen, weil sie glauben, mit ihrem Verhalten den Übergriff provoziert zu haben. Oder, weil es nach dem gesellschaftlichen Konsens bisher schlicht nicht strafbar war – wie zum Beispiel jede widerwärtige Hand, die bisher im voll besetzten Bus ihren Weg an einen Frauenpo fand.

All das ist nicht nur der Alltag von Opfern. Diese Realität wirkt auf eine ganze Gesellschaft, auf Eltern, die Kinder erziehen, auf Mädchen und Jungs, die einander und ihre Sexualität entdecken, auf Männer, die damit umgehen müssen, als potenzielle Täter wahrgenommen zu werden. Und also setzt man doch voraus, dass in dieser Gesellschaft alle einig sein müssten: Was getan werden kann, um all das zu ändern, tun wir bitte schleunigst.

Was könnte zustimmungsfähiger sein als das Schlagwort „Nein heißt Nein“, unter dem die Reform subsumiert wurde? Es reicht, wenn ein Mensch nein sagt um klarzumachen, dass er allein über seinen Körper verfügt. Muss man das diskutieren?

Es gibt keine weiblichen Heere, die Gerichtssäle verstopfen

Aber die Debatte zur Verschärfung des Sexualstrafrechts war lang und quälend. Das liegt nicht nur an der Silvesternacht von Köln, nach der in einer emotional aufgeladenen Atmosphäre der Grapscherparagraf zunächst verhandelt wurde, als wäre ohne ihn von heute auf morgen kein freies, öffentliches Leben mehr möglich. Es liegt vor allem an dem Missverständnis, wonach ein Gesetz, einmal gemacht, die Realität grundlegend ändern würde. So überfrachteten Gegner und Befürworter die Diskussion mit übersteigerten Befürchtungen und Erwartungen.

Man fragt sich, ob die Gegner sich eigentlich noch selber zuhörten, wenn man ihre Schreckensvisionen von weiblichen Heeren hört, die prozesswütig Gerichtssäle verstopfen. Natürlich sind Falschbeschuldigungen furchtbar. Aber sie sind die Ausnahme. Wer einmal in einem Prozess um ein Sexualdelikt war, weiß um die Qual der Opfer. Auf der anderen Seite wünschte man den Befürwortern ein Innehalten. Denn es ist nicht schön, dass der Staat dem einzelnen, für sich sein wollenden Menschen so gefährlich nahe kommt, bis ins Schlafzimmer. Aber ein System ist nur so gut, wie der Schutz, den es den Schwächeren gewährt.

Allein: Es sind nicht zuerst die Gesetze, welche Gesellschaften ändern. Gesellschaften ändern sich und dann ihre Gesetze, um der geänderten Sichtweise Rechnung zu tragen. Es ging darum, etwas in eine Norm zu gießen, was sich bisher allein als gesellschaftlicher Wandlungsprozess darstellte – quasi im Weichzeichner. Wenn Frauen und Männer sich jetzt mit einem harten Strafrechtsparagrafen auf diesen Wandel verständigen, dann ist das vor allem eins: wohltuend klar.