Sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen nimmt zu, beobachtet die Anlaufstelle im Rems-Murr-Kreis. Einen Grund dafür vermuten Fachleute im Medienverhalten von Jungen und Mädchen.

Leserredaktion : Kathrin Zinser (zin)

Waiblingen - Sexuelle Beleidigungen, heimlich verbreitete Nacktbilder, Angrapschen bis hin zur Vergewaltigung – sexualisierte Gewalt äußert sich in verschiedenen Formen. Dabei haben Übergriffe unter gleichaltrigen Jugendlichen zugenommen – das ist zumindest die Erfahrung der Mitarbeiter der Anlaufstelle gegen sexualisierte Gewalt im Rems-Murr-Kreis. Etwa 240 bis 260 neue Fallanfragen erreichen die Beratungsstelle pro Jahr – davon gehe es bei rund einem Drittel um sexualisierte Gewalt unter Gleichaltrigen, erklärt Diplom-Pädagoge Urban Spöttle-Krust.

 

Vor diesen Hintergrund hat die Einrichtung am vergangenen Donnerstag einen Fachtag veranstaltet, an dem unter anderem Schulleiter, Schulsozialarbeiter und Polizisten teilnahmen. Die psychischen Folgen von Gewalterfahrungen waren ebenso Thema wie die Ergebnisse der sogenannten Speak-Studie, die verdeutlicht, dass sexualisierte Gewalt besonders häufig von gleichaltrigen Jugendlichen ausgeht.

Nacktbilder werden schnell ins Netz gestellt

„Es hat sich gezeigt, dass Jugendliche, die häufig Pornos anschauen, weniger sensibel gegenüber Grenzverletzungen sind, und zwar insbesondere dann, wenn sie vom Elternhaus wenig emotionalen Halt erfahren. Da gibt es einen starken Zusammenhang“, erklärt Grit Kühne, die wie ihr Kollege Spöttle-Krust im Waiblinger Büro der Anlaufstelle tätig ist, im Vorfeld des Fachtags. Die im Internet leicht verfügbaren Pornos führten häufig dazu, dass Jugendliche unübliche Sexualpraktiken ausprobieren oder aber selbst Bilder und Filme von sich anfertigen, diese verschicken oder andere Jugendliche dazu auffordern, es zu tun. „Dabei können sie nicht umreißen, was passieren kann und was es bedeutet, wenn solche Aufnahmen im Internet kursieren“, sagt Kühne, die beobachtet hat, dass Kinder sich heute zwar körperlich früher entwickeln, damit aber gleichzeitig im Kopf oft noch überfordert sind.

Die moralische Entwicklung von Jugendlichen sei zudem durch ein Sozialgefüge erschwert, in dem Normen und Werte stärker auseinander gehen als früher und in dem es weniger Konstanten gibt – etwa durch häufige Umzüge oder Scheidung der Eltern, erläutert Spöttle-Krust. Mädchen sind häufiger als Jungen von sexualisierter Gewalt betroffen. Kühne sieht einen Grund darin auch im von der Werbung und den Medien verbreiteten Frauenbild, wonach Frauen in erster Linie sexy und attraktiv sein müssen. „Jungen wird wiederum suggeriert, sie müssten der tolle Hecht sein, der immer bereit ist“, sagt sie. Die Folgen von sexualisierter Gewalt auf die Betroffenen können – je nach Schwere der Übergriffe und psychischer Widerstandsfähigkeit des Opfers – massiv sein: von geringem Selbstwertgefühl, über Schlafstörungen bis hin zu Essstörungen, selbstverletzendem Verhalten oder Depressionen.

Beratungsstellen fehlen Ressourcen

„Der Fokus muss stärker auf die Prävention gerichtet werden“, betont Spöttle-Krust. Bei der Anlaufstelle in Waiblingen arbeitet er daher auch mit Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt ausüben. Sie mit ihrem Fehlverhalten zu konfrontieren, könne im besten Fall weitere Taten verhindern. Eine andere Maßnahme zur Prävention sind Schutzkonzepte in Schulen, Kindergärten und Vereinen. Zu einem solchen Konzept gehören neben einer Risikoanalyse und Fortbildungen von Lehrern und Kindergärtnern Projekte zum respektvollen Umgang miteinander sowie klare Zuständigkeiten. „Kinder müssen wissen, an wen sie sich im Notfall wenden können“, sagt der Diplom-Pädagoge. Er begrüßt die Initiativen der Bundesregierung in diesem Bereich. Wichtig sei, dass personelle und finanzielle Mittel vorhanden sind. „Wir können Schulen im Einzelfall bei der Erarbeitung solcher Konzepte begleiten, doch um das flächendeckend zu leisten, fehlen uns die Ressourcen“, so Kühne.

Im Kultusministerium sei dieses Problem bekannt, erklärt ein Sprecher. „Wir überlegen uns, wie wir die Fachstellen besser unterstützen können.“ Sieben Pilotschulen im Land haben in einem mit 66 000 Euro geförderten Projekt Schutzkonzepte mithilfe von Fachberatungsstellen erarbeitet. 2018 endete das Projekt, die Erfahrungen waren positiv und fließen in eine Handlungshilfe für Lehrkräfte ein, die nun erarbeitet wird, so der Sprecher. „Wir sind an dem Thema dran“, versichert er.