Sexueller Kindesmissbrauch Wie geht Gerechtigkeit, Frau Gebrande?

Die Esslinger Professorin Julia Gebrande will Betroffenen von sexualisierter Gewalt Gehör verschaffen. Für manche Institutionen heißt das, endlich ihre Geschichte aufzuarbeiten. Foto: Ines Rudel

Die Esslinger Professorin Julia Gebrande fordert ein Recht auf Aufarbeitung für Betroffene von sexuellem Kindesmissbrauch – und nimmt auch die Institutionen in die Pflicht.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Wäre sie Punkerin, würde ihr Lebensmotto vermutlich etwas weniger höflich klingen. Irgendwas in Richtung von „ Macht kaputt, was euch kaputt macht!“. Doch so provokant drückt sich Julia Gebrande (44) nicht aus. Auch wenn man ahnt, dass sich hinter dem freundlichen Blick und dem akademischen Titel der Professorin für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Esslingen auch jede Menge Wut auf den Zustand der Welt verbirgt. Seit gut sechs Monaten ist Julia Gebrande eines von sechs Mitgliedern der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs.

 

Statistisch zwei Kinder in jeder Schulklasse betroffen

Aber schon ihre gesamte Berufstätigkeit über schaut sie in die Abgründe der Gesellschaft. In Esslingen etwa hat sie die Fachberatungsstelle Wildwasser mit aufgebaut. Promoviert hat sie in Hildesheim über die Frage: Wie lässt sich Gerechtigkeit herstellen? Genauer: Wie kann Kindern in Kindergarten, Schule und in der Jugendhilfe geholfen werden, ihre Missbrauchserfahrungen zu bewältigen. Experten gehen davon aus, dass in jeder Schulklasse zwei Kinder sitzen, die sexualisierte Gewalt erleben haben. Die aktuellen Zahlen des Bundeskriminalamtes nennen für das Jahr 2021 15 500 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch. Das macht die Dimension der Missachtung des Rechts von Kinder auf eine gewaltfreie Kindheit deutlich.

Das Wort Opfer meidet Gebrande dennoch sehr bewusst. Um Menschen nicht auf ihren Opferstatus zu reduzieren, sagt sie lieber Betroffene oder auch Überlebende. „Um aber Menschenrechtsverletzungen zu benennen“, und als solche versteht sie die Taten sexuellen Missbrauchs, „braucht es manchmal den Begriff Opfer, um deutlich zu machen: Hier wurden Grenzen überschritten.“ Außerdem gehören zu Opfern immer auch Täter und Täterinnen. „Denn Missbrauch ist kein individuelles Schicksal, sondern ein menschengemachtes Unrecht“.

Mit dem Canisiuskolleg fing alles an

2016 hat die Unabhängige Kommission auf Basis eines Bundestagsbeschluss, einberufen vom damaligen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig, ihre Arbeit aufgenommen. Nachdem 2010 die Missbrauchsfälle am Berliner Canisiuskolleg der Jesuiten eine Welle ins Rollen gebracht hatten, fanden immer mehr Menschen den Mut, über Erfahrungen von lange zurückliegender sexualisierter Gewalt zu sprechen. Und zwar nicht nur im kirchlichen Kontext. Sondern auch in Vereinen, Heimen, Schulen und in Familien. Und so zitiert Gebrande auf die Frage nach ihrer Wut nicht Rio Reiser und den bereits zitierten Ton-Steine-Scherben-Song, sondern sagt diplomatisch: „Natürlich bin ich wütend aufgrund all dieser Ungerechtigkeiten. Mir ist es aber wichtig, diese Wut in Prozesse der Veränderung zu kanalisieren. Und es ist mir ganz wichtig, mich politisch zu engagieren.“

Die Arbeit in der Kommission ist ein solches Engagement. Julia Gebrande sitzt in einem Besprechungszimmer der Fachhochschule. Erster Stock mit Blick über Esslingen. Es ist Freitagnachmittag. Sie kommt gerade aus einer Projektbesprechungen mit Studierenden. Vor Gebrande liegt der erste dicke Bericht der Unabhängigen Kommission. Überschrift: „Geschichten, die zählen“. Und noch eine weitere Studie, in der es wieder um die Herstellung später Gerechtigkeit geht. Eine Gesprächsatmosphäre, in der sich die Betroffenen nicht wieder so hilflos fühlen wie in der Kindheit, ist eine der Forderungen darin. Und die nach einem offiziellen Gedenktag für die Betroffenen von sexueller Gewalt in der Kindheit, sagt Gebrande.

Es ist ihr sehr bewusst, dass auch sie zu den Erzählenden hätte gehören können – „mit all meinen Krankenhausaufenthalten“. Manchmal, sagt sie, wundere es sie fast, dass sie keinen Missbrauch erlebt habe. Denn in der Schwarzwald-Gemeinde Bad Säckingen kommt sie 1978 als Kind mit einer körperlichen Behinderung, das in seinen Bewegungen einschränkt ist, zur Welt. Aber das Mädchen wächst privilegiert auf in einer Zahnarztfamilie mit hohem sozialen Status. Ihre Eltern setzen für ihre Tochter durch, was Mitte der 80er Jahre noch ein Fremdwort war: Inklusion. Das Kind geht in den gleichen Kindergarten wie die anderen Kinder. In der Schule geht es gerade so weiter.

Privilegierte Kindheit

Doch diese privilegierte Stellung führt Julia Gebrande schon früh die Ungleichheiten der Gesellschaft vor Augen – und wird ihr innerer Kompass. Sie erzählt von Krankenschwestern, die nach Dienstschluss noch an ihr Bett kamen und ihr vorgelesen haben. Oder von Lehrerinnen, die sie im Krankenhaus unterrichteten, damit sie keinen Stoff versäumte. Sie gilt als kleiner Sonnenschein. „Aber Resilienz“, so sagt sie, „ist keine Persönlichkeitseigenschaft. Es ist eigentlich eine privilegierte Situation mit vielen Schutzfaktoren“. Julia Gebrande hat all diese Schutzfaktoren bekommen. „Ich hatte Glück.“

Das Mädchen gehört dazu, ist keine, die am Rande steht. Mit dem Nichtdazugehören und so denen schutzlos ausgeliefert zu sein, die ihre Macht missbrauchen, fangen viele Missbrauchsgeschichten an. „Aus Studien wissen wir, dass Menschen mit Behinderung ein zwei- bis dreifach höheres Risiko haben, Opfer von sexualisierter Gewalt zu werden.“ Auch damit will sich die Kommission noch beschäftigen. Aber zur Julia Gebrandes Sozialisation gehören auch die langen Gespräche mit der geliebten Großmutter über deren NS-Vergangenheit beim Bund deutscher Mädel (BDM) und das Thema Euthanasie. Wie wichtig Aufarbeitung der Geschichte ist, ist ihr schon damals klar.

Die Kommission erstellt so etwas wie ein Zeitzeugenarchiv des sexuellen Kindesmissbrauchs in Deutschland. Bisher haben sich etwa 2500 Menschen gemeldet. 650 von ihnen haben ihre Geschichte niedergeschrieben. Die übrigen haben bei einer Anhörung erzählt. Die meisten in einem geschützten Raum, andere bei öffentlichen Anhörungen.

Julia Gebrande ist eine von denen, die vorurteilsfrei zuhört. Die Menschen sollen selbstbestimmt erzählen und die volle Kontrolle über ihre Geschichte haben. „Ich begreife es als meinen gesellschaftlichen Auftrag, Betroffenen Gehör zu verschaffen, ihnen Räume zu eröffnen, in denen sie selbstbestimmt ihre Stimme erheben können“, sagt Gebrande. Es gehe nicht um Therapie oder Strafverfolgung. „Es geht um die subjektive Wahrheit der Betroffenen, denn mit der leben sie weiter“, so die Sozialpädagogin und Traumaexpertin. „Deshalb ist Aufarbeitung immer auch ein Schritt im individuellen Heilungsprozess.“

Mit ihrer Arbeit will die Kommission das Geschehen der Vergangenheit dokumentieren. Im September hat sie die viel beachtete Fallstudie „Sexualisierte Gewalt und sexueller Missbrauch im Kontext des Sports“ veröffentlicht. Im Moment sind die Schulen – öffentliche wie private – im Fokus. „Die individuelle Geschichte ist nur eine von vielen“, erklärt Gebrande. In der Addition all dieser Geschichten wollen die Expertinnen und Experten Strukturen, Tatmuster und Täterstrategien herausarbeiten, die Missbrauch begünstigen – und Empfehlungen dagegen aussprechen.

Verlängerung über 2023 wahrscheinlich

Das ist, vorsichtig ausgedrückt, eine Mammutaufgabe. Dass die Kommission ihre To-do-Liste bis Ende 2023 abgearbeitet hat, ist unwahrscheinlich. Die politischen Gespräche für eine Verlängerung ihrer Auftrags laufen. „Es geht um Unrecht, um Verbrechen an einzelnen Menschen, die in unserer Gesellschaft stattfinden, weil für Kinder, Jugendliche und erwachsene Schutzbefohlene kein Schutzraum geschaffen wurde.“

Deshalb haben die Forderungen der Kommission das Potenzial, das Unterste zu oberst zu kehren. Betroffene sollen ein Recht auf Aufarbeitung haben. Institutionen, die oft beteuern, es gäbe kein Unterlagen mehr, sollen nun zur Aufarbeitung verpflichtet werden. Würden diese Forderungen von der Politik als verpflichtend anerkannt, wäre das ein Meilenstein in der Geschichte der Aufarbeitung erfahrenen Unrechts. Und das politische Engagement einer wütenden Frau hätte sich mehr als ausbezahlt.

Hilfe und Aufarbeitung

Kommission
Mitglieder der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs sind Christine Bergmann (ehemalige Bundesfamilienministerin), Silke Gahleitner (Sozialarbeiterin und Psychotherapeutin), Julia Gebrande (Sozialpädagogin und Fachberaterin für Psychotraumatologie), Barbara Kavemann (Sozialwissenschaftlerin), Matthias Katsch (Philosoph und Berater), Heiner Keup (Sozialpsychologe). Die Mitglieder kommen aus der Politik, den Rechts-, Erziehungs- und Sozialwissenschaften.

Hilfe
Unter der Telefonnummer 0800 22 55530 verbirgt sich das Beratungsangebot Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch. Auf der Webseite www.hilfe-missbrauch-portal.de finden sich weitere Hilfsangebote.

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