Ehemalige Bewohner von Kinderheimen der Diakonie der Evangelischen Brüdergemeinde sprechen in einem Offenen Brief von einem „Pädophilen-Netzwerk“, das es im Ort gegeben haben soll. Die Aufarbeitung der Heimgeschichte gestaltet sich immer schwieriger.

Korntal-Münchingen - Inzwischen ist es nicht nur Detlev Zander, der Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs in einem Korntaler Kinderheim erhebt. Mehrere Betroffene haben sich in einem offenen Brief an die Brüdergemeinde gewandt. Darin erheben sie massive, schwerwiegende Vorwürfe. Nicht nur der Hausmeister habe Kinder vergewaltigt, sondern „sehr viele weitere Täter, die sich kannten und vernetzt waren“. So hätten auch außerhalb der Kinderheime Kinder „in Korntaler Privathäusern den Tätern zur Verfügung stehen“ müssen. Um diese Behauptung von einem, wie sie es nennen, „Pädophilen-Netzwerk“ zu stützen, nennt Zander dieser Zeitung gegenüber mehrere Namen mutmaßlicher Täter.

 

Damit konfrontiert, reagiert Klaus Andersen erschrocken und bestürzt. Der weltliche Vorsteher der Brüdergemeinde erklärt, die Namen in diesem Kontext bis zu diesem Zeitpunkt nicht gehört zu haben. Sollte sich der Vorwurf erhärten, ginge das „weit über das hinaus, was auf dem Tisch liegt“, sagt Andersen. Zander hingegen versichert, der Brüdergemeinde sehr wohl die Namen in diesem Zusammenhang genannt zu haben – also nicht nur jenen des Hausmeisters, der nach mehreren übereinstimmenden Berichten pädophile Neigungen gehabt haben soll. „Es hat noch um die Jahrtausendwende schwere Straftaten in den Heimen gegeben bis hin zur Schwängerung eines minderjährigen Mädchens“, heißt es in dem offenen Brief weiter. Mancher in Korntal will dies ebenfalls gehört haben. Ein Vorwurf, der sich jedenfalls zum jetzigen Zeitpunkt weder bestätigen noch widerlegen lässt.

Juristischer Streit erschwert Aufarbeitung

Zander hatte den Stein ins Rollen gebracht. Er will 1,1 Millionen Euro Schadenersatz und Schmerzensgeld für seine Erlebnisse im Hoffmannhaus in der Zeit von 1963 bis 1977 vor Gericht einklagen. Dadurch getrieben, hat die Diakonie der Brüdergemeinde begonnen, ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Die Unterstützung durch Externe ist dafür notwendig, doch die parallel dazu laufende juristische Auseinandersetzung erschwert offenbar die Suche: Ein dafür angefragter Professor sagte deshalb jüngst ab. „So schnell wie möglich“, so Andersen, wolle man nun einen anderen Externen benennen. Den Vorwurf der Verzögerung oder gar Hinhaltetaktik könne er deshalb nicht gelten lassen.

Für Detlev Zander, der der Diakonie vorhält, die Opfer unglaubwürdig zu machen, ist ein Gespräch mit der Brüdergemeinde mittlerweile nur noch unter Bedingungen vorstellbar: mit Moderation eines Externen, an einem neutralen Ort und im Beisein der Presse.

„Alle warten auf eine Initiative der Brüdergemeinde“, sagt er, der nach eigenem Bekunden rund 60 Zeugen benennen könne, die seine Vorwürfe stützten. Die Brüdergemeinde ist nach eigenen Angaben zwar bemüht, in den direkten Dialog mit den ehemaligen Heimkindern zu treten. Eine öffentliche Auseinandersetzung lehnt sie zum jetzigen Zeitpunkt aber ab, man habe sich noch nicht über Rahmenbedingungen verständigt. Zudem sei die Debatte noch zu sehr von Emotionen überlagert, sagt Andersen.

Die drohende Klage mobilisiert

Die Auseinandersetzung mit der Historie ist komplex. Einiges, was heute nach Unrecht aussieht, war damals vom Recht auf Züchtigung gedeckt. Dazu wurde auf Bundesebene im Jahr 2008 ein Runder Tisch und ein Entschädigungsfonds eingerichtet. Dies alles wird diskutiert vor dem Hintergrund der juristischen Auseinandersetzung. Dabei geht es zunächst um die Prozesskostenhilfe für Zander. Das Landgericht hat allerdings Zanders Antrag zurückgewiesen und sich dabei wie die Brüdergemeinde vor allem auf eine Verjährung berufen. Gegen den Beschluss reichte Zander Beschwerde beim Oberlandesgericht ein. Mit einer Entscheidung des Oberlandesgerichts wird gegen Jahresende gerechnet. Zwischenzeitlich hat die Brüdergemeinde einen zweiten Anwalt hinzugezogen, offenbar ein Spezialist in Verjährungsfragen. Auch dieser – eigentlich kleine – Punkt lässt allerdings die Emotionen hochkochen: Für Zander sieht das „aus wie eine Einschüchterungstaktik“. Immer wieder weist er zudem darauf hin, nicht der einzige Missbrauchsfall zu sein.

Zum jüngsten Treffen der Opferhilfe kam rund ein Dutzend Menschen – überwiegend zwischen 40 und 70 Jahre alt –, die ebenfalls von Schlägen und Quälereien, aber auch von sexuellem Missbrauch berichteten. Sie wollen unabhängig von der juristischen Auseinandersetzung an die Öffentlichkeit gehen. Geplant ist eine Demonstration und Kundgebung vor zentralen Einrichtungen der Brüdergemeinde und dem Rathaus.