Um bereits kleine Kinder gegenüber sexualisierter Gewalt stark zu machen, werden die Beschäftigten von elf evangelischen Kitas in und um Leonberg umfassend geschult.

Ludwigsburg: Anne Rheingans (afu)

Manchmal sind es eigentlich harmlose Doktorspiele, bei denen Grenzen überschritten werden. Manchmal ist es sexueller Missbrauch durch Erwachsene. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder hat viele Facetten und kommt häufiger vor, als viele meinen – auch in der hiesigen Region.

 

170 bis 180 Fälle 2021 im Kreis Böblingen

Im vergangenen Jahr registrierte Thamar, die Beratungsstelle gegen sexualisierte Gewalt, im gesamten Kreis Böblingen zwischen 170 und 180 Fälle, bei denen Kinder und Jugendliche betroffen waren. Die Dunkelziffer dürfte sogar 20 bis 30 Prozent höher liegen, sagt Dorothee Gebel, bei Thamar als Fachkraft für Prävention und Intervention bei sexuellem Missbrauch tätig. Sie schult die Beschäftigten in den elf Kindertageseinrichtungen der evangelischen Gesamtkirchengemeinde Leonberg.

Derzeit läuft ein umfassendes Präventionsprogramm, um die Erzieherinnen und Erzieher für das Problem zu sensibilisieren und ihnen pädagogische Hilfestellungen zu geben, damit sie das Thema bei den Mädchen und Jungen kindgerecht anbringen können. Denn nicht selten beginnt der Missbrauch bereits im Vorschulalter.

Gesamtkirchengemeinde will das Thema aktiv ansprechen

Sexualisierte Gewalt ist grundsätzlich keine neue Entwicklung. Schon seit Jahren spielt dieses Thema bei Fortbildungen eine Rolle, sagt Christa Juraske, die die pädagogische Fachleitung für die Kindertageseinrichtungen der Gesamtkirchengemeinde innehat. Erstmalig geht es nun jedoch um eine umfassende pädagogische Präventionsarbeit. „Wir wollen nicht darauf warten, dass die Kinder das Thema ansprechen, sondern selbst aktiv werden“, betont Juraske. Die Gesamtkirchengemeinde hat als Trägerin der Betreuungseinrichtungen daher damit begonnen, ihre Beschäftigten im Umgang mit sexualisierter Gewalt zu schulen.

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In eintägigen Veranstaltungen für jeweils etwa 20 Erzieherinnen und Erzieher im Leonberger Haus der Begegnung klärt Dorothee Gebel unter anderem über die Formen sexualisierter Gewalt, Täterstrategien und Hilfsmöglichkeiten auf. Nach der mehrstündigen Fortbildung erhalten die Beschäftigten für ihre Kita eine „Starke Kinder Kiste“.

Diese Box der Deutschen Kinderschutzstiftung Hänsel und Gretel enthält Bücher und andere Gegenstände, mit denen die Erzieher sechs Wochen lang das Thema mit den Mädchen und Jungen bearbeiten können. Zum Beispiel steckt in der Kiste ein Megafon, das symbolisieren soll, dass sich betroffene Kinder Hilfe holen sollen, und eine „Stopp“-Kelle, die darauf hinweist, dass man Grenzverletzungen nicht hinnehmen muss.

Grenzverletzungen sind noch immer stark verbreitet

Sechs dieser Boxen brachte Jerome Braun, der Geschäftsführer der Stiftung, mit nach Leonberg. Die körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung von Minderjährigen werde nach wie vor häufig verletzt, sagt er. Es fange beispielsweise schon damit an, dass man kleine Kinder dazu nötige, ihrer Oma einen Kuss zu geben, obwohl sie das gar nicht wollen. „Diese Grenzverletzung ist leider immer noch stark verbreitet“, sagt er. Mit dem sechswöchigen Präventionsprogramm in den Betreuungseinrichtungen sollen die Mädchen und Jungen lernen, dass ihr Körper ihnen gehört und wo sie bei Übergriffen Hilfe finden können. Auch Gewalt unter den Kindern wird angesprochen.

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Bei dem Programm werden zwei Ansätze verfolgt, erklärt Christa Juraske. Einerseits geht es darum, dass die pädagogischen Fachkräfte lernen, sensibel hinzuschauen und aufzuspüren, welches Kind von sexualisierter Gewalt betroffen sein könnte. „Andererseits bieten wir aktiv Gespräche an und schlagen Brücken, an die die Kinder andocken können“, sagt sie. Schließlich vertrauen sich nicht alle Mädchen und Jungen ihren Erzieherinnen und Erziehern an. Deshalb sei es wichtig, Möglichkeiten zu schaffen, das Thema anzuschneiden.

Programm läuft in diesem Jahr weiter

Am Projekt der „Starken Kinder Kiste“ haben sich bundesweit bereits 700 Kitas in zwölf Bundesländern beteiligt. Es wird von Sponsoren unterstützt. Die Fortbildung wird von Fachberatern abgehalten, um eine direkte Vernetzung und einen Austausch in der jeweiligen Region entstehen zu lassen. Im Kreis Böblingen ist daher Thamar mit im Boot. Bei den Einrichtungen der evangelischen Gesamtkirchengemeinde Leonberg wurde der Auftakt im vergangenen Jahr gemacht. Es wird allerdings noch dauern, bis alle beschäftigten Erzieherinnen und Erzieher das Programm durchlaufen haben.