Im Stuttgarter Schauspielhaus zeigt Armin Petras einen Klassiker: Shakespeares „Sturm“. Es ist seine erste Arbeit nach der umstrittenen Vertragsverlängerung als Intendant. Petras nutzt die Chance, das Publikum ist jedoch uneins.

Stuttgart - Theater, so lautet seit geraumer Zeit das Glaubensbekenntnis von Armin Petras, darf nicht nur Sprechtheater sein. Es muss auch Tanz und Performance sein, Kunst- und Videoinstallation, am besten alles gleichzeitig zu einer lebenden Skulptur zusammenfließend, die aus dem Off auch noch akustisch kommentiert wird. In diesen spartenübergreifenden Momenten geht es auf der Bühne dann drunter und drüber, Action hier und Action da, laut und ambitioniert, auch jetzt in Shakespeares „Sturm“, wo der regieführende Intendant unmittelbar nach der Pause seinen großen berüchtigten Kunsthammer rausholt. Zehn atemlose Minuten drischt er damit aufs Publikum ein.

 

Prospero, der ins Exil gejagte Herzog von Mailand, hat soeben eine Ehe gestiftet. Auf der von ihm mit Zauberkraft beherrschten Insel heiratet seine Tochter den Sohn seines ärgsten Feindes. Und kaum haben Miranda und Ferdinand einander das Jawort gegeben, entfesselt Prospero alias Petras auch schon das Inferno. Auf der sich unablässig drehenden Bühne spielt das frisch vermählte Paar im Zeitraffertempo alle Lebensalter durch, von der Geburt bis zum Tod inklusive Bürgerkrieg mit brennendem Kleinfamilienhaus – eine stumme, sehr artistische Choreografie, die rechts und links, oben und unten von Video- und Bildprojektionen begleitet wird.

Zu sehen sind offizielle Hochzeitstänze aller Zeiten und Kulturen, aber auch private Erinnerungsbilder, die – anders als die ethnografischen Doku-Einsprengsel – live hergestellt werden. Als Produktionsstudio dient dabei Prosperos Studierzimmer: Assistiert von Caliban, der den Kameramann gibt, liegt der Magier schmerzgekrümmt auf dem Schreibtisch und klebt sich Fotos auf den nackten Bauch, die auf mehrere Großleinwände geworfen werden.

Man sieht also: Tanz, Performance, Kunst- und Videoinstallation vor einer treibenden Geräuschkulisse, alles simultan im Affenzahn, was zwangsläufig zu einer Überforderung der Sinne führen muss. Sie nimmt Castorf’sche Ausmaße an und wirft die Frage auf, was das ganze, mit enormem Aufwand hergestellte Spektakel soll. Eindruck schinden? Und uns Provinzlern zeigen, wie andernorts der Avantgardehase läuft?

Die Welt steuert auf die Apokalypse zu

Es ist auch Angeberei, die in dieser Kunstanstrengung steckt – aber nicht nur, denn während man durchaus gebannt das szenische Tohuwabohu verfolgt, wird die Bühne des Schauspielhauses von einer Atmosphäre imprägniert, die sich mit bitterer Schärfe über die gesamte Inszenierung legen wird. Die Welt steuert auf die Apokalypse zu, sagt uns Petras mit seinem jüngsten Regiestreich, die Kleinfamilie ist die sich immer wieder reproduzierende Hölle einer Gesellschaft, der ohnehin bald der Garaus gemacht wird. Das klingt diffus und ist es auch, aber viel präziser lässt sich der hemmungslos entfachte Bildersturm nicht fassen. Seine beeindruckende Bildkraft indes zeigt, was der Intendant aus Shakespeare rausholt: ein Nachtstück der Melancholie über einem Abgrund voller Gewalt, Tod und Verzweiflung.

Der „Sturm“ gibt diese Sichtweise her. Uraufgeführt 1611, gehört er zu den letzten Stücken des elisabethanischen Meisters. Vordergründig ein romantisches, von der Aussöhnung der Menschheit träumendes Märchenspiel, ist es hintergründig ein tiefpessimistisches Drama um Macht und Ohnmacht. Seit zwölf Jahren lebt Prospero in der Verbannung. Als seine Feinde an der von ihm beherrschten Insel vorbeisegeln, lässt er mit magischen Kräften einen Sturm vom Stapel, der die ihm verhasste Gesellschaft an seiner Küste stranden lässt. Und was geschieht? Flugs werden neue Komplotte geschmiedet, nicht nur gegen ihn, sondern auch gegen den schiffbrüchigen König von Neapel, den dessen Begleiter vom Thron stoßen wollen. Im Finale vergibt Prospero zwar allen Mordbuben ringsum, doch die von Shakespeare bis dahin freigelegten Mordgelüste sind dazu angetan, dem scheinharmonischen Happy End zu misstrauen. Petras tut das in gründlicher Weise.

Der Sklave Caliban sucht Zuflucht bei Holzfiguren

Stringenter als in früheren Arbeiten entfaltet er den Plot. Von Luftgeistern abgesehen, bevölkern neben Prospero nur noch zwei Menschen das Eiland. Diese beiden Untertanen rennen zu Beginn der Inszenierung minutenlang um die Insel herum: die hurtige Tochter Miranda und der humpelnde Sklave Caliban, der schon bald bei mannshohen Holzfiguren Zuflucht sucht. Am Rand der mit einer halbrunden Wand versehenen Spielfläche hat die Bühnenbildnerin Kathrin Frosch nämlich pechschwarze Negerskulpturen aufgestellt, die von Ernst Ludwig Kirchner stammen könnten – und dass Caliban nach seinem schier endlosen Kreisdauerlauf nun einen dieser stummen Leidensgenossen just in der Inselmitte postiert, wo die längste Zeit der Inselregent Prospero aufragte, weist symbolisch auf den sich anbahnenden Konflikt hin: weiße Herrn gegen ein Heer schwarzer Sklaven, das gegen die Tyrannei aufbegehren wird.

Denn ein Tyrann, ein Diktator, ein Willkürherrscher ist dieser Prospero allemal. Bei Shakespeare trägt er noch Züge von Weisheit und Güte, bei Petras nicht. Manuel Harder spielt den Patriarchen als verwitterten Altfreak, der als Zaubermantel einen verschlissenen Bademantel trägt – und als autoritären Sack, der jede Renitenz seitens der Untertanen mit zynischer Souveränität bestraft. Wenig Mühe hat er dabei mit dem Luftgeist Ariel, den Paul Grill in wechselnden Transen-Kostümen gibt; etwas mehr Mühe macht ihm seine Tochter Miranda, die bei Julischka Eichel eine pubertierende Rebellin ist – so lange, bis auch sie via Hochzeit mit dem aus den Fluten kommenden Ferdinand besänftigt wird – eine Besänftigung und Domestizierung freilich, der sich der schlammverschmierte Caliban der Sandra Gerling mit Kräften widersetzt. Sie bildet, neben dem starken Manuel Harder, den Dreh- und Angelpunkt des „Sturms“. Lasziv und rotzig, wütend und zornig, gurrend, keifend, sabbernd und schreiend erweist sich Gerling abermals als extrem wandlungsfähige Hochenergiespielerin der Sonderklasse.

Petras führt die Schauspieler an der langen Leine

Im Finale lässt dieser Caliban vorne an der Bühnenrampe die Füße baumeln. Voller Vorfreude nimmt er wahr, was sich hinten an der Bühnenwand ereignet. Anders als in der Vorlage darf Prospero bei Petras nämlich nicht mit der Hofgesellschaft zurück nach Italien reisen. Das Betreten des Schiffs wird dem Herrn untersagt, und das sardonische Grinsen des Sklaven deutet an, was jetzt folgen könnte: Caliban unchained, sich in den Blutrausch der Rache stürzend. Mit Marx an Bord navigiert Petras in seiner Inszenierung also auf den Freiheitskampf der Ausgebeuteten zu, auf den Krieg zwischen Erster und Dritter Welt. Aber natürlich wählt er dabei nicht den schnurgeraden Weg. Er nimmt, wie in früheren Arbeiten auch, beträchtliche Umwege in Kauf, so dass man passagenweise fürchtet, er verliere im Dickicht der Bilder und Motive wieder jegliches Ziel aus den Augen.

Seine Spieler jedenfalls führt er an der ganz langen Leine. Er lässt sie großzügig improvisieren und aus der Rolle fallen, abschweifen und in den Saal ausschweifen, was nicht jedem Premierengast gefällt. Bei einer der Anarcho-Einlagen verkörpert Sandra Gerling nicht mehr Caliban, sondern – als Theater auf dem Theater – eine Regisseurin, die mit zwei Schauspielern das Attentat auf Prospero einstudiert – mit wenig Erfolg. „Es reicht“, brüllt die ungeduldige Theaterfrau aus voller Seele, unzufrieden mit der jämmerlichen Leistung der Schnapsnasen auf der Bühne. „Ja, es reicht“ echot es jetzt prompt aus dem zahlenden Publikum zurück, „wirklich, es reicht“, denn auch bei Teilen der Zuschauer hat sich mittlerweile einige Unzufriedenheit breitgemacht.

Der „Sturm“ ist die erste Inszenierung von Armin Petras nach der umstrittenen Vertragsverlängerung als Intendant. Drei Stunden dauert der verwirbelte, verstrudelte, verrätselte Abend, der an Unterkomplexität gewiss nicht leidet. Als er vorbei ist, ertönen Buhs, gegen die sich die Bravos nur schwer behaupten können. Trotzdem: alles in allem hat Petras mit diesem Shakespeare in Stuttgart wieder Boden gutgemacht.