Erstmals gibt es in einem deutschen Shoppingcenter eine Behindertentoilette mit Erwachsenenwickeltisch. Das Milaneo in Stuttgart-Mitte macht den Vorreiter.

Digital Desk: Sascha Maier (sma)

S-Mitte - Natascha Cid geht gerne in die Disco, tanzt zu Musik aus den 70ern und 80ern, etwa im LKA in Wangen. Doch häufig ist die Party für sie vorbei, bevor sie überhaupt angefangen hat. Denn die 50-jährige Cid ist mehrfach behindert, sitzt im Rollstuhl, muss eine Windel tragen – und folglich auch dann und wann gewickelt werden. Während das in den meisten Diskotheken für Erwachsene nicht möglich ist, demonstrierte Cid am Mittwoch im Einkaufszentrum Milaneo einen Patientenlifter und einen Wickeltisch, die dort ab jetzt genutzt werden können.

 

„Dass es in einem Shoppingcenter eine Behindertentoilette mit Erwachsenenwickeltisch gibt, ist bundesweit eine Neuheit“, sagte Jutta Pagel-Steidl, Geschäftsführerin des Landesverbands für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg. Das Milaneo ist eine von 18 unterschiedlichen Orten im Land, die jetzt mehr Inklusion wagen und die Wickeltische bis Ostern realisiert haben wollen.

Luftdichter Windeleimer

Mit insgesamt 150 000 Euro förderte das Land das Projekt zuletzt und hat bis zu 90 Prozent der Anschaffungs- und Installationskosten übernommen. Der Wickeltisch im Milaneo war mit 5000 Euro verhältnismäßig günstig. Womöglich auch, da der Wickelraum für Erwachsene gleichzeitig als Liegeraum für Besucher mit Kreislaufkollaps dient. Ein luftdichter Windeleimer sorgt bei dieser Nutzung für erträgliche Aufenthaltsqualität.

Doch auch wenn in der Disco offenbar Nachfrage für Erwachsenen-Wickeltische besteht – gilt das auch für ein Einkaufszentrum? Steffen Köppe, technischer Leiter im Milaneo, berichtet von einem Einzelfall, als eine Mutter einen solchen Wickeltisch anregte. „Sonst versuchen wir, möglichst breit zu kommunizieren, dass es so was bei uns gibt“, sagte Köppe. Über die Beschilderung, Aushänge und das Internet. Wie das Angebot wirklich genutzt werde, könnten erst die nächsten Monate zeigen.

So fraglich bleibt, ob sich Schwerbehinderte und deren Familien so häufig durchs Milaneo drängen, so klar sind die Probleme, wenn es für sie keine Gelegenheit zum Wickeln gibt. „Wenn Angehörige unterwegs sind und etwas passiert, kann man den Einkauf, Ausflug oder Bummel eigentlich abbrechen, wenn keine Wickelgelegenheit in der Nähe ist“, sagt Jutta Pagel-Steidl vom Körperbehindertenverband. Es sei wichtig, dass überall diese Möglichkeit gegeben ist: Sonst könnten Menschen nicht uneingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Und da gehörten auch Einkaufszentren dazu.

Aber auch andere Orte. Wie beispielsweise Bahnhöfe. Auch in der Klett-Passage soll eine behindertengerechte Toilette mit Wickeltisch für Erwachsene eingerichtet werden. „Aber da gibt es offenbar noch Probleme, wie das dort geregelt werden soll“, sagt Pagel-Steidl. Es könne Vandalismus drohen, oder dass der Raum einfach verunreinigt. Und sogenannte genormte Euro-Schlüssel, die Menschen mit Körperbehinderung EU-weit Türen zu unterschiedlichen Hilfsangeboten öffneten, hätten längst nicht alle Betroffenen.

Bedarf sehr hoch

Dabei ist die Zahl derer, denen alleine mit einem Wickeltisch geholfen wäre, sehr hoch. Laut Erhebungen des Landesverbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung gibt es allein in Baden-Württemberg rund 380 000 Erwachsene, die nicht alleine auf die Toilette gehen können und gleichzeitig unter Inkontinenz leiden.

Auch wenn Baden-Württemberg Vorreiter im Bundesdurchschnitt sei, was Rollstuhl-WCs und Wickelräume angehe, sagt Jutta Pagel-Steidl: „Im Vergleich zu England sind wir hier sehr hinterher.“ Dort gibt es bereits 900 solche Einrichtungen. Das Logo – ein Erwachsener, ein Rollstuhlfahrer, ein Lifter –, das auch hier verwendet wird, stammt aus England. Es beschreibt sogenannte „Changing Rooms“, übersetzt „Wechselräume“, wie es diskret heißt.

Aber ob es in England auch in Discos Behindertentoiletten gibt? Natascha Cid würde wohl die ganze Nacht durchtanzen.