Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble ist der heilenden Passion der Politik verfallen – meint unsere Kolumnistin.

Stuttgart - Keiner flitzte so blitzschnell und bewegungsbegabt durch die Bonner Regierungszentrale wie Wolfgang Schäuble: mal eben mit Helmut Kohl, dem er als Kanzleramtsminister diente, ein Wort gewechselt; danach für einen Moment im Sessel am eigenen Schreibtisch in Akten geschaut; schließlich eine knappe aber glasklare Auskunft an die Adresse der Journalistin, die Helmut Kohl auf der Spur war. Es machte atemlos, dem vierzigjährigen Schäuble zuzuschauen.

 

Doch von einer Sekunde zur anderen war alles aus und vorbei. Der Wieselflinke niedergeschossen. Eben noch hochbeweglich, nun in die totale Ruhe gezwungen. Ein Leben im Rollstuhl vor sich, gelähmt vom dritten Brustwirbel an abwärts. An einem Wahlkampfabend, anno 1990, hatte ein paranoider Schütze die Gelegenheit wahrgenommen. Es traf den damals Begabtesten, den Kanzler hinter Kohl. Kanzler nach Kohl hätte er werden können. Aber jetzt? Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass der Schwerverletzte noch etwas Außerordentliches würde leisten können. Immer stand die Frage im Raum: geht das mit dieser Behinderung? Fraktionschef, ja, das war möglich, auch Innenminister. Aber Finanzminister? Da traten Schwierigkeiten auf, die Kanzlerin wartete geduldig, bis er aus dem Krankenhaus zurück kam. Er muss dauernd reisen - nach Brüssel, auch nach Washington. Der siebzigste Geburtstag liegt inzwischen auch schon hinter ihm. Und wer hat wirklich eine Vorstellung davon, wie diese Strapazen mit einer Querschnittslähmung zu bewältigen sind?

Er ist eine Art europäischer Kanzler

Was immer es in seinem Fall sein mag: Wolfgang Schäuble regiert und reist. Ja, es sieht ganz danach aus, als sei er erst jetzt, nach fast 25 Jahren im Rollstuhl, auf dem Zenit seiner Kraft angelangt. Nie zuvor war er so mächtig - nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Zu Hause ist er zwar nicht Kanzler und nicht Bundespräsident geworden – was, wie man weiß, keineswegs auf seine Behinderung zurück ging. Im ersten Fall stand ihm Kohl, im zweiten Angela Merkel im Wege. Sein Part in der Spendenaffäre war auch nicht hilfreich. Jetzt aber ist er einer der Wichtigsten in der Europäischen Union, wahrscheinlich sogar der wichtigste Politiker überhaupt, eine Art europäischer Kanzler, auf alle Fälle viel intelligenter, scharfsinniger als Jean-Claude Juncker, der Vorsitzende der Kommission – und auch viel einflussreicher.

Das hat natürlich damit zu tun, dass er in Brüssel als der hochkompetente Finanzminister der stärksten Wirtschaftsmacht des Bündnisses auftreten kann. Es ist aber auch die Frucht einer schier unglaublichen menschlichen Anstrengung. Denn Wolfgang Schäuble hat sein Schicksal nicht nur gemeistert. Er hat es abgelegt, hat ihm, in dem, was man sehen kann, den Stachel genommen, ist an ihm gewachsen, ist in einzigartiger Weise ganz er selbst und wahrhaft groß geworden. Niemand unter Freunden oder Gegnern geht mehr – was er sowieso immer gehasst hat - mitleidsvoll mit ihm um, nur weil er gelähmt ist. Sowenig wie er davor zurück schreckt, Untergebene abzukanzeln. Der Respekt der Griechen reicht nicht einmal mehr aus, ihn vor schmähenden Nazi-Darstellungen zu bewahren. Er wird also nicht weniger heftig angegriffen als die kerngesunde Kanzlerin. Auch der Vorwurf, er sei verbittert – der während der ersten Jahre nach der schreckliche n Tat in der Welt war – ist mittlerweile ausgeräumt. Er zieht nicht mehr. Man sieht doch täglich, mit welchem Vergnügen er arbeitet, argumentiert, kämpft, seinen beißenden Humor aufblitzen lässt oder seine mundartlichen Einfälle –am 28. Februar, 24 Uhr, isch over – unter die Leute bringt.

Die Marke Schäuble wirbt für deutsche Politik

Wenn er in den ersten Monaten nach dem Attentat – da sprach er immer noch von einem Unfall – eine Rede halten wollte, fiel ihm das Atmen aus der sitzenden Haltung noch schwer. Inzwischen hat er seinen Körper trainiert, treibt Sport, soweit das möglich ist. Doch Kraft und Disziplin kommen weniger vom Bizeps als von einem außerordentlichen Intellekt. Sie kommen aus dem Kopf dieses Mannes, der einer Leidenschaft erlegen ist – der ihn heilenden Leidenschaft für die Politik. Sie hat Wolfgang Schäuble nicht nur geholfen, die schwere Behinderung aus seinem alltäglichen Leben auszugliedern und irgendwo abzulegen.

Seine wundersame Entwicklung – wobei ihm gewiss auch viel geholfen wurde und wird – wirkt natürlich auch als Ermunterung, als Ansporn für alle, die sich in einer ähnlichen Lage befinden. Und nicht zuletzt ist seine Lebensleistung das beste Argument gegen alle Politikverdrossenen, Politikbeschimpfer, Politikverächter. Nichts von dem, was an Stammtischen über dieses Metier bramarbasiert wird, trifft auf ihn zu. Die Marke Schäuble wirbt für deutsche Politik – auch wenn die Griechen das etwas anders sehen. Bereits vor dem Attentat hat er Herausragendes für sein Land geleistet – den Einigungsvertrag mit der DDR ausgehandelt, später dann, schon im Rollstuhl, bei der Abstimmung für Berlin als Hauptstadt die entscheidenden Argumente geliefert. Ein Heiliger ist er trotz alledem nicht, sondern ein mit allen Wassern gewaschener Politiker. Keiner weiß, was er mit den zwielichtig dilettierenden Hellenen wirklich vorhat. Nur so viel steht fest: sie könnten froh sein, sie hätten einen wie ihn.