Nicht nur der rechte, auch der linke Ungeist steigt angesichts der Verstaatlichungsdiskussionen aus dem Grab der Vergangenheit empor, meint StZ-Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Blackbox DDR. Das war eine journalistische Herausforderung. Da musste man hin, als die Mauer fiel. Und ich kann sagen: Ich bin dabei gewesen. Nicht nur während der ersten Tage, sondern auch in den Wochen und Monaten danach. Es war eine niederschmetternde Erfahrung. Ich erlebte ein System im Endstadium, grau, mit verpesteter Luft, verseuchtem Wasser und im Zustand des totalen Verfalls.

 

In den Straßen des Prenzlauer Bergs bröckelten die Fassaden, brachen die Balkone von den Häusern herunter. In der Dresdner Neustadt sackten die oberen Etagen nach unten durch, hier und da rollte der Schutt aus den Haustüren auf den Gehsteig. Im Zentrum von Naumburg sahen die Gassen aus, als ob ein Bombenkrieg über sie hinweggetobt wäre. Nur die unteren Etagen hatten noch intakte Fenster und schienen bewohnt. Weiter oben blinkten zerbrochene Scheiben in der Abendsonne. Die Zeiss-Fabrik zu Jena glich einem verrosteten Schrotthaufen. Von der schönen Bäderarchitektur auf Usedom waren nur noch abgeblätterte Geisterfassaden übrig. Die Halle eines Kabelwerks in Mecklenburg zu betreten grenzte an Lebensgefahr. Werkzeuge, Maschinen, Bänder lagen kreuz und quer durcheinander, ließen einen stolpern. Ein Ingenieur klagte, man bekäme schon länger keine Zulieferungen mehr. Selbst im feinen Grandhotel zu Berlin konnte man am Zustand der allgemeinen Knappheit nicht vorbeischauen. Die Plastikklobrille auf der Toilette wackelte gefährlich, die Armaturen der Wasserspülung hielten sich nur mit Mühe an der Wand. Doch in dem Hotel auf Rügen, wo die Parteibonzen der SED abgestiegen waren, standen immerhin Kristallgläser im Schrank, auch war ein Lift zu besichtigen, der die Mielkes und Honeckers zum Strand hinuntergefahren hatte.

Nicht ohne Grund haben sich Millionen DDR-Bürger in den Westen abgesetzt

Nein, man musste in der DDR nicht hungern. Aber der Tee war wegen der schlechten Qualität des Wassers ungenießbar. Im Dresdner Hotel Newa zählte die Bedienung beim Frühstück die Brotscheiben ab. In den Schaufenstern lagen ein paar wurmstichige Äpfel und Dosen mit eingemachtem Gemüse. Nirgendwo eine Chance, im Vorbeigehen bei einem Metzger oder Bäcker ein belegtes Brötchen zu ergattern. In der Portiersloge eines Ministeriums besetzten drei Männer einen Job und hatten nichts zu tun. Was für eine trostlose Welt. Nicht ohne Grund haben sich Millionen DDR-Bürger in den Westen abgesetzt. Eine mit Todesdrohungen bewehrte Mauer musste gebaut werden, um die Zurückgebliebenen von der Flucht abzuhalten. Denn in sozialistischen Systemen kann sich der Mensch nicht entfalten. Da kann man nicht frei atmen, kann seine Möglichkeiten nicht ausschöpfen, seinen Unternehmergeist nicht entwickeln und damit auch die Gesellschaft nicht zum Blühen bringen.

Aber weiß das noch jemand? Wer erinnert sich an den schmählichen Untergang des realen Sozialismus in unserem Land? Wer fürchtet sich vor Planwirtschaft und Mangelwirtschaft, vor dem bleiernen Leben mit bröckelnden Fassaden? Wie kann man diese erzwungene Trostlosigkeit vergessen und nach Vergesellschaftung und Verstaatlichung rufen? Wo bleibt der Aufschrei der Empörung in der Öffentlichkeit?

In Nordkorea und auf Kuba, zwei sozialistischen Staaten, müssen die Menschen hungern, im sozialistischen Venezuela fehlt es an allem, was zum Leben notwendig ist. Aber hier bei uns steigt mit dem rechten Ungeist auch sein linker Bruder aus dem Grab der Vergangenheit empor. Die Nachfolgepartei der SED – die das DDR-Elend zu verantworten hatte – sitzt heute im Bundestag. Sie regiert in einigen Bundesländern. In ihrem Programm für Europa warnt sie vor dem bösen Kapitalismus, der die Demokratie gefährde. Da lachen doch die Hühner.

Am Kapitalismus gibt es einiges zu kritisieren

Nur Wolf Biermann hat den Abgeordneten dieser Partei im Bundestag die Leviten gelesen. Sonst dürfen sie sich ganz ehrbar geben, als eine Partei wie die Bonner Altparteien auch. Fast täglich können sich ihre Vorsitzenden in Nachrichtensendungen und Talkshows der Öffentlich-Rechtlichen als das soziale Gewissen der Nation präsentieren. Und dann natürlich das Juso-Küken Kevin Kühnert, der in so vielen Medien ernst genommen wird. Sie alle schielen nach dem Sozialismus, dem vermeintlichen Paradies auf Erden, und sehen darüber hinweg, dass die mentalen und ökonomischen Schädigungen durch das sozialistische System im deutschen Osten bis heute nachwirken – dreißig Jahre nach seinem Untergang und nach der Investition von Milliarden Mark und Euro.

Nun gibt es gewiss am Kapitalismus dieses und jenes zu kritisieren. Auch ist die Spanne zwischen den obszönen Managergehältern und dem Einkommen einer alleinerziehenden und teilzeitbeschäftigen Mutter von drei Kindern gewiss weit. Aber in der Bundesrepublik muss sich niemand einem Manchester-Kapitalismus ausgeliefert fühlen. Wir leben hier im Regelwerk der sozialen Marktwirtschaft, eines gebändigten Kapitalismus, einer gewaltigen Umverteilungsmaschine, und wir leben wahrlich nicht schlecht. Mehr Paradies ist hienieden nicht zu vergeben.