Mit Hans-Dietrich Genscher entschwindet uns die alte Republik. Auch die neue, unter Angela Merkel, wankt schon, meint unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - So was von einem Hotel! Das Marriott in Amman! Eleganz und Luxus, wo man hinsah: Überfluss im Dekor, verspiegelte Aufzüge. Ich fuhr abwärts in Richtung des Frühstücksraums, und just in diesem Moment geschah das Unvorstellbare. Der deutsche Außenminister, den wir Journalisten auf einer Nahostreise begleiteten, stieg zu. Nur mit einer Badehose bekleidet, ein Handtuch über dem Arm, schwarze Straßenschuhe an den nackten Füßen, zum Pool strebend und in alledem völlig ungeniert. So war er. Wo immer Hans-Dietrich Genscher sich gerade aufhielt, lebte er – neben aller Kompetenz, Rationalität und unendlichem Fleiß – den urdeutschen Jedermann vor. Auch Biertrinken, Gruppenseligkeit und Witze erzählen gehörten dazu. Deutscher ging‘s gar nicht.

 

Wie sehr ihm aber auch das politische Deutschland als Ganzes am Herzen lag, merkte ich zu meiner Überraschung während eines langen Gesprächs, in dem es vor allem um seinen und seiner Partei Wechsel von der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt zu einer neuen Verbindung mit der Union und dem Kanzler Kohl ging. Als ich ihn fragte, was ihm am meisten unter der Haut brenne, verwies er auf die Trennung seiner Heimat Thüringen vom westlichen Deutschland. Er litt unter der deutschen Teilung. Das hatte ich nicht erwartet in jenen Tagen, anno 1983, als niemand an eine baldige Wiedervereinigung glaubte.

Mit Genscher geht die alte Bundesrepublik

Doch wie jeder aus seiner Politikergeneration repräsentierte auch Hans-Dietrich Genscher seinen Teil der jüngsten deutschen Geschichte. Da war eben nicht nur der Außenminister, da war auch der Flakhelfer und Ostflüchtling. Helmut Schmidt, dem er lange als Außenminister und Vizekanzler diente, trug den Wehrmachtsoffizier im Erfahrungsgepäck, Herbert Wehner die kommunistische Vergangenheit oder Willy Brandt die Emigration. Inzwischen sind sie alle gegangen. Nun auch Genscher und damit wieder einer, der die alte Bundesrepublik kenntlich machen konnte. Noch eine Stimme, die fehlt und die – in diesem Fall – nicht mehr mit unverwechselbarem Hallenser Akzent, den man auch aus seinen englischen Sätzen heraushören konnte, erzählte, wie alles war in jener zweigeteilten und übersichtlichen Welt, als der politische Streit noch im Plenum und nicht bei Maybrit Illner ausgetragen wurde. Mit Genscher geht sie also endgültig dahin, die alte, ordentliche und in Bescheidenheit auf sich selbst konzentrierte Bundesrepublik. Ihre Gesichter verblassen, ihre Argumente zählen nicht mehr, ihre Atmosphären entschwinden uns.

Helmut Kohl, ja, der ist noch da, freilich nur als Schatten seiner selbst. Allein Norbert Blüm zeigt sich unvermindert kregel. Er will unbedingt noch einmal dabei sein. Deshalb schmiss er sich dieser Tage, koste, was es wolle, in die neue Zeit, flog nach Idomeni ins gerade aktuellste Zentrum des Weltelends und übernachtete im Zelt, umgeben von Matsch, Kälte, Syrern und Afghanen. Norbert Blüm, ein deutscher Sozialarbeiter, der letzte Retter. Doch er rettete keinen einzigen Flüchtling, und auch die alte Bundesrepublik ist auf immer verloren. Die neue warf gerade mal einen Fernsehnachrichtenblick auf ihn und seine Selbstentblößung. Ein paar Eiferer nutzten die Gelegenheit und missbrauchten seinen Namen für einen menschengefährdenden Ausbruchsversuch. Das war es auch schon.

Abhängig von Erdogans Gnade

So fest wie einst Hans-Dietrich Genscher inmitten seiner Aufgaben stand, derart verlässlich rational, wird so schnell keiner und keine mehr stehen. Und ist inzwischen nicht auch schon die neue Bundesrepublik, das Imperium Merkelaneum, in Endzeitbedrohung geraten? Wie kann das weiter tragen: erst die Arme auszubreiten zur überreizten Willkommenskultur, die Schmuse-Selfis mit fremden Ankömmlingen und dann dieser Handel mit Erdogan? Nimm du die griechischen Flüchtlinge, so nehmen wir deine? Und das ausgerechnet mit diesem größenwahnsinnigen Tausendzimmerpalastbewohner, einem Bürgerkriegsbetreiber um des eigenen Machterhalts willen, der die Menschenwürde, die Meinungsfreiheit und den Rechtsstaat mit Füßen tritt? Vor ihm muss Angela Merkel nun auf die Knie, ihm hat sie sich, hat sie uns, hat sie Europa – soweit es überhaupt mitmacht – ausgeliefert. Von seiner Gnade oder Ungnade sind wir abhängig. Schon versucht er, sein Verständnis von Meinungsfreiheit auch in Deutschland durchzusetzen. Für ein verdammt teures Verfahren hat sich Angela Merkel da verbürgt, um die eigenen Fehler auszuwetzen. Und selbst wenn dieser Deal der Sache dienlich sein sollte, schon weil ohne die Türkei, wegen ihrer geografischen Lage, sowieso nichts läuft, ist der Preis zu hoch. Vielleicht gehen die Flüchtlingszahlen in der Tat zurück – vorübergehend. Die Glaubwürdigkeit der Kanzlerin und damit die ihrer Partei – die neuesten Umfragen beweisen es – ist gleichwohl zerstört.

Nun wissen wir nicht mehr, wer Angela Merkel ist: diese hilfsbereite, für einen langen Moment allzu gefühlvolle Frau oder die eiskalte Realistin, die Menschen hin- und herschieben lässt? Und wer sind wir in Deutschland zwischen all diesen Unvereinbarkeiten: angeblich Hegemon in Europa, aber von anderen Europäern im Stich gelassen, dazu den Ansprüchen des üblen Potentaten vom Bosporus unterworfen, also erpressbar? So viel Zweifel an uns und unserem Tun war selten. Und keiner weiß, wie das ausgeht.