Die Befragung der SPD-Mitglieder über eine große Koalition entmachtet Abgeordnete und Wähler – kritisiert unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger.

Stuttgart - Eine Verheißung durchweht unser Land, die Verheißung von der direkten Demokratie. Es ist ein Hauch von Schweiz. Er soll uns politisches Heil und neue Lebendigkeit in dem bald 65 Jahre alten repräsentativen System bescheren – soll uns erretten vor Verkrustung und Verdruss. Herbei also ihr Gläubigen, zelebriert Volksbefragung, inszeniert Volksentscheid, tragt Mitgliederbefragung in die Parteien, auf dass das Gute Einzug halte in der Politik und alles Gottseibeiunshafte in der Macht endlich gezähmt werde. An der Basis wohnt die Wahrheit. Daran kommt man heute nicht mehr vorbei.

 

Nicht nur die Schweizer treiben dieses Spiel mit Erfolg gegen Minarette und Maut. Die Bayern haben das Rauchen in den Kneipen abgeschafft, die Hamburger eine Schulreform verhindert. Für Stuttgart 21 kam es spät. Auch deshalb befragen die Sozialdemokraten nun beizeiten ihre Mitglieder, um sich sagen zu lassen, wie es denn mit der Union in den kommenden vier Jahren zu halten sei.

Die Führungsleute der SPD setzen auf einen Persilschein, der ihnen erlaubt, anschließend mit den Christdemokraten in Ruhe zu regieren und kein nachklappendes Debakel mit koalitionsunwilligen Mitgliedern zu erleben. Man hat ja bei Schmidt und Schröder gesehen, wohin das führt. Und also ist es verständlich, sich zu vergewissern. Aber handelt es sich da wirklich um einen segensreichen demokratischen Einfall? Muss, was vielleicht für ein gewagtes Bauvorhaben gelten mag, auch für den Koalitionspoker nach einer Bundestagswahl richtig sein?

Nicht die Parteispitze, die Basis zieht die Strippen

Das muss es ganz und gar nicht. Es ist doch seltsam, dass eine Partei gewaltige Parteitage mit Delegierten bestückt, dort Grundsatzentscheidungen beschließt, ihre Vorstände und das Führungspersonal auswählt – nur um das alles am Ende wieder zur Disposition zu stellen. Wozu braucht man einen Vorsitzenden, wenn er den schönen Chef-Auftrag in der wichtigsten aller Fragen gleich wieder an die Parteibasis zurück reicht? Was hat die SPD von einer Führung, die sich nicht zu führen getraut und sich aus lauter Angst vor der eigenen Courage zur Marionette am Faden ihrer Mitglieder macht? Für so viel politischen Unsinn muss der Mensch büßen. Und so sehen wir den gut meinenden Herrn Gabriel, wie er verzweifelt durch die Lande strampelt, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Doch er hängt in der Luft. Die Basis zieht die Strippen, die Geister, die er rief, die wird er nicht mehr los.

Schon das Vorhaben der sozialdemokratischen Mitgliederbefragung – noch nicht einmal der Akt der Entscheidung - bedeutet eine Selbstenthauptung der Parteiführung. Da mag Frau Nahles noch so oft betonen, welch wunderbare und beispielhafte demokratische Errungenschaft die Mitgliederbefragung sei. Dieser Riesenzirkus schwächt ihre Partei und deren Position, weil keiner weiß, wie es ausgeht und ob es am Ende womöglich zum Big Bang kommt.

Als Wohltat verbrämter Unsinn

Zu der Selbstbeschädigung einer einst großen, in dieser Epoche ohnehin nicht starken Partei gesellt sich das verfassungsrechtlich Bedenkliche – die Entmachtung ihrer Bundestagsabgeordneten. Auch sie sind, wie die Parteiführung, von der Basis gekürt, auf die Listen gesetzt, in den Wahlkreisen als Direktkandidaten dem Bürger präsentiert. Der hat sie ins Parlament geschickt, wo sie laut Grundgesetz an Aufträge und Weisungen nicht gebunden sein sollen. An ihnen und an niemandem sonst ist es, die Kanzlerin zu wählen oder nicht zu wählen. Das beschließen sie normalerweise mehrheitlich in ihrer Fraktion. Für ihr Tun und Lassen werden sie zur Verantwortung gezogen. Nun aber soll es irgendwelchen parlamentsfernen Genossen überlassen sein, ihre Entscheidungen zu ersetzen.

Auf dem Hintergrund der Mitgliederbefragung sind die neuen SPD-Bundestagsabgeordneten zur Marginalie herabgewürdigt hinter Mitgliedern der SPD, die kein Mensch gewählt oder beauftragt hat. Die Wahl ist außer Kraft gesetzt und ein vom Grundgesetz nicht vorgesehenes gebundenes Mandat installiert. Den vom Volk – und nicht nur von SPD-Mitgliedern -beauftragten Vertretern, entzieht die Partei schnurstracks den eben erteilten Volksauftrag und reicht ihn an die Mitgliedschaft weiter.

Aber das ist noch nicht alles. Die vorgeblich so vorbildhafte Mitgliederbefragung raubt nicht nur der eigenen, gewählten Führung die Fähigkeit zum Handeln, verlagert existenzielle politische Entscheidungen aus dem Parlament in die unterste Ebene der Partei und entmachtet ihre eigenen Abgeordneten. Sie entmachtet damit auch die Wähler. Die Zahlen verdeutlichen noch diesen als Wohltat verbrämten Unsinn. Mehr als elf Millionen Menschen haben die SPD mit ihrer Zweitstimme gewählt, mehr als zwölf Millionen mit der Erststimme, ein Quorum von 20 Prozent der gut 474 000 Mitglieder der SPD soll aber ausreichen, dem Entscheid Gültigkeit zu verschaffen. Von ein paar Tausend Genossen, die niemand zur Verantwortung ziehen kann, hängt also ab, wer die 80 Millionen Deutschen in den nächsten vier Jahren regiert und ob nun endlich, mehr als zwei Monate nach der Bundestagswahl, überhaupt eine Regierung zustande kommt. Und das soll demokratisch sein?

Hanebüchen ist es, und sonst gar nichts.